Leseprobe Tod im Harz


EINS

Eine Hexe hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Diese hier war blond. Platinblond. Mit ein bisschen Häme könnte man es auch grau nennen. Aber Tonja neigte nicht zur Häme. Die Hexe trug ihr gepflegtes Haar offen. Immerhin. Es umrahmte ihre Schultern wie ein seidener Vorhang. Ihr Gesicht war durchaus ansehnlich. Nicht schön, das wäre zu viel des Wohlwollens. Ansehnlich passte. Und die dunklen Augen bildeten einen reizvollen Kontrast zu ihrer sonst lichten Erscheinung. Eine gute Hexe, dachte Tonja, mit gerader Nase, deren linken Flügel ein kleines Muttermal zierte. Eine Alibiwarze, fuhr es Tonja durch den Kopf, sonst könnte man sie ja gar nicht erkennen. Die Tarot-Karten, die sie liebevoll durch ihre schwer beringten Finger gleiten ließ, waren ein unzureichendes Accessoire, um sie als Hexe zu kennzeichnen. Sie saß in einer abgeschiedenen Ecke der Brunnenschenke, die Tonjas Mutter seit ihrer Rückkehr nach Goslar mied wie der Teufel das Weihwasser. Und das lag nur an ihr, der »Brunnenhexe«, wie sie alle nannten. Man fragte sich schon, warum die Wirtin der Schenke sie dort duldete. Aber das war im Grunde ganz einfach zu beantworten. Sie war eine Touristenattraktion. Das jedenfalls hatte Tonjas Mutter, Adele, mit leisem Grollen in der Stimme ihrem Enkel Otto erklärt, als in der Bäckerei am Marktplatz von der Brunnenhexe die Rede gewesen war.
Als Otto dann wissen wollte, was eine »Touristenattraktion« sei, hatte seine Oma etwas von »verlogenen, wichtigtuerischen Weibern« gemurmelt. Mit dieser eigenwilligen Erklärung war Otto zufrieden gewesen, und sein Interesse war erloschen. Das von Tonja hingegen erwacht. Was hatte es mit dieser Brunnenhexe auf sich? Ihre Mutter hatte sich immer in Schweigen gehüllt, wenn Tonja sie nach ihrem Vater oder ihrer Kindheit in Goslar gefragt hatte. »Vergangenes sollte man ruhen lassen, wenn es einem nicht guttut«, lautete ihre stereotype Antwort auf Tonjas Neugier. Hatte die Brunnenhexe womöglich Antworten auf ihre Fragen?
Tonja hatte ihren Vater seit über zwanzig Jahren nicht gesehen und nichts von ihm gehört. Bis vor einem halben Jahr, als er ihr das Haus in Goslar vererbt hatte. Ihr Sohn, Otto, hatte seinen Großvater nie kennengelernt. Ebenso wie er seinen Vater wohl nie kennenlernen würde. Ein Umstand, der Tonja ganz und gar nicht gefiel. Sie wusste schon heute kaum, was sie ihrem Sohn antworten sollte, wenn er nach seinem Vater fragte. Ich kann ihn nicht finden, war keine besonders befriedigende Antwort, auch wenn es die Wahrheit war. Glücklicherweise waren alleinerziehende Mütter keine Seltenheit, sodass er in seiner Klasse nicht der einzige »vaterlose« Junge war. So hatte sich seine Lehrerin beim Einschulungsgespräch ausgedrückt und Tonja dabei angesehen, als wäre sie ein bemitleidenswertes, unvollkommenes Wesen. Vielleicht war sie das ja auch.
Wenn Tonja sich ihre Mutter zum Vorbild nahm, die nie eine Beziehung gehabt hatte, außer der Ehe mit ihrem Vater natürlich, dann konnte von Unvollkommenheit keine Rede sein. Jedenfalls hatte ihre Mutter eine ziemlich hohe Meinung von sich selbst. Über ihre Ehe redete sie nur als von »dem Fehler«. Immer im Singular. So, als wäre es der einzige in ihrem Leben gewesen. Dabei konnte Tonja ihr mindestens einen zweiten attestieren: nämlich ihre Tochter nach ihrem Großvater Anton benannt zu haben. Antonia war ihr vollständiger Name, aber alle hatten sie Tony genannt. Tonja hatte sich damit wie ein Junge gefühlt. Aber dann hatte sie den Film »Doktor Schiwago« gesehen, und aus Tony wurde Tonja. Das versöhnte sie mit ihrem Namen, auch wenn sie ihren Großvater, den alten Grantler, nicht mochte.
Vor einundzwanzig Jahren wurde die Ehe ihrer Mutter geschieden, kurz nachdem sie beide nach Hannover gezogen waren, wo sie bis vor einem halben Jahr gelebt hatten. Tonja war der Abschied schwergefallen, aber auf ihr Erbe verzichten wollte sie auch nicht. Das Haus, in dem Tonja die ersten fünf Jahre ihrer Kindheit verbracht hatte. Die Mutter hatte ihr geraten, es zu verkaufen, aber Tonja wollte nicht. Sie war eine leidenschaftliche Köchin und hatte sich in den Kopf gesetzt, in dem alten, verkommenen Haus am Schieferweg in Goslar ein Restaurant zu eröffnen. Ihre Mutter hatte alles versucht, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen, aber Tonja im Grunde nur darin bestärkt.
Als sie das Haus dann gesehen hatte, waren Tonja allerdings Zweifel gekommen. Ihr Vater hatte zwar hier gelebt, aber Haus und Grundstück vollkommen sich selbst überlassen. Den Garten konnten sie nicht betreten, denn er war vollständig mit Brombeeren überwuchert. Tonja fühlte sich an das Märchenschloss von Dornröschen erinnert und war geneigt, dem Prinzen, der Dornröschen aus ihrem Dornengefängnis befreit hatte, eine durchaus noble Arbeitsmoral zuzugestehen. Sie hatte nämlich angefangen, das dornige Gestrüpp zu entfernen, was sich als langwierig und äußerst anstrengend erwiesen hatte.
Ihre Mutter hatte es kategorisch abgelehnt, ihr zu helfen. Immerhin hatte sie sich bereit erklärt, ihren Job bei einem Call-Center in Hannover aufzugeben und mit der Tochter die Landeshauptstadt zu verlassen. Wenn auch unter Protest, zumindest, was den Wohnortwechsel betraf. Den Job hatte sie erleichtert gekündigt. Mit einem Restaurant in Goslar und einer ambitionierten Köchin ließ sich wahrscheinlich mehr Geld verdienen. Obendrein würde es mehr Spaß machen, auf eigene Rechnung zu arbeiten, als sich den ganzen Tag von unzufriedenen Kunden eines Online-Anbieters anmeckern zu lassen.
Das größte Problem war Großvater Anton, der alte Grantler, gewesen. Immerhin wurde er bald achtzig und konnte wohl erwarten, dass seine Tochter sich um ihn kümmerte. So hatte er sich ausgedrückt. Dabei war Opa Anton bei bester Gesundheit, was ihn nicht daran hinderte, mit der Welt, seinem Familienstand als Witwer und seinem Alter zu hadern. Seit dem Tod von Tonjas Großmutter vor sechs Jahren teilte er sich in Hannovers Stadtteil Limmer eine Zweizimmerwohnung mit seinem Freund und ehemaligen Arbeitskollegen Rudi. Und es war ausschließlich Rudis unerschütterlichem Gleichmut zu verdanken, dass die Wohngemeinschaft der beiden bisher ohne größere Katastrophen funktionierte. Anton war nämlich nicht nur grantig, sondern auch ein wenig zerstreut, was ihn noch grantiger machte.
Wie auch immer, Tonja und ihre Mutter hatten den Mietvertrag ihrer Dreizimmerwohnung in Linden gekündigt, hatten ihre geringe Habe zusammengepackt und waren in den Harz gezogen. Tonja wusste nicht viel über das norddeutsche Mittelgebirge, hatte von der Walpurgisnacht und den Brockenhexen gehört, von der Kaiserpfalz in Goslar und vom Bergwerksmuseum Rammelsberg. Alles Dinge, die sie als Kind so sehr interessiert hatten wie die »Tagesschau«, nämlich gar nicht. Als sie dann von dem Erbe erfahren hatte, hatte sie sich im Internet schlaugelesen. Wusste nun, dass Goslar zum Unesco-Weltkulturerbe zählte und diverse Kaiser vor tausend Jahren hier Hof gehalten hatten. Wusste auch, dass der Brocken oder der Blocksberg, wie Otto ihn nannte, mit – ihrer Meinung nach mickrigen – eintausendeinhunderteinundvierzig Metern der höchste Berg im Harz war. Sie hatte sich den Hexentanzplatz und die Rosstrappe bei Thale angesehen, war mit Otto durch dichte Nadelwälder gewandert und hatte verstört die wunder-lichen Ortsnamen Elend und Sorge zur Kenntnis genommen. Wie sich das wohl anfühlte, in »Elend« oder »Sorge« zu leben?
Die Vielzahl von Wanderern, die ihr bei ihren Ausflügen begegnet waren, und die pittoreske Fachwerkstadt Goslar hatten sie letztlich überzeugt. Sie würde eine Pension eröffnen und ein kleines, aber feines Restaurant, wenn es sein musste, gegen den Willen ihrer Mutter. Die hatte aber am Ende klein beigegeben. Otto allerdings war der Abschied von seinem Freund Nils ungleich schwerer gefallen. Das war der größte Makel an ihrem Vorhaben gewesen. Glücklicherweise war ihr Vater so rücksichtsvoll gewesen, kurz vor der Einschulung seines Enkels das Zeitliche zu segnen. So musste sie ihrem Sohn keinen Schulwechsel zumuten. Und vor einer halben Stunde war der erste Elternabend zu Ende gegangen.
Es waren überwiegend Ehepaare anwesend gewesen, und die wenigen einsamen Mütter kannten sich alle. Tonja hatte sich ziemlich isoliert gefühlt und sich an Ottos ersten Schultag erinnert, als der Junge mit trotziger Miene, allein und gemächlich neben seiner Mutter hergegangen war und sich geweigert hatte, ihre Hand zu nehmen. Das war vor drei Wochen gewesen. Mittlerweile hatte sich Otto ganz gut eingelebt und war vorgestern bei seinem Tischnachbarn Enno zum Mittagessen eingeladen gewesen. Zwar freute sich Tonja darüber, sie wusste aber auch, dass sie sich revanchieren musste. Und da ihr Heim im Moment ein einziges Provisorium war, wusste sie nicht, wann das sein sollte. Und Ennos Mutter platzte offensichtlich vor Neugier. Da war sie nicht die Einzige. Sie hatte Tonja heute Abend mit ihren kleinen blauen Augen lauernd beobachtet und ihrer Nachbarin etwas zugeflüstert, die sie dann ebenfalls angestarrt hatte wie ein seltenes Tier. Tonja hatte sich unwohl gefühlt. Was dachten diese Frauen über sie? Es war ihr unangenehm, und Tonja hatte sich am Ende schnell aus dem Klassenzimmer verdrückt.
Warum sie dann den Weg zur Brunnenschenke eingeschlagen hatte, wusste sie nicht genau. Vielleicht war es einfach die Neugier gewesen. Neugier auf die Bewohner dieser idyllischen Stadt. Oder auf die seltsame Frau, die Brunnenhexe, die dort in ihrer Ecke saß und einer jungen Frau die Karten legte, vor sich ein Glas mit einer undefinierbaren Flüssigkeit. Nun war sie hier und stand unschlüssig in der Eingangstür. Bei ihrem Eintritt hatten sich ihr alle Köpfe zugewandt, was vielleicht noch nicht ungewöhnlich war, aber dass die etwa zwei Dutzend Gäste bei ihrem Anblick verstummten und sie anstarrten, das war doch seltsam.
Okay, wenn sie aussehen würde wie Naomi Campbell oder Quasimodo, dann wäre es nachvollziehbar, aber weder das eine noch das andere traf auf sie zu. Natürlich war sie hübsch, das jedenfalls hatte Opa Anton gesagt, damals auf der Beerdigung ihrer Großmutter. »Ganz hübsch, das Mädel, aber bisschen dürr.«
Letzteres war für Tonja damals das größere Kompliment gewesen. Dünn war sie immer noch und vielleicht auch hübsch. Die junge Frau, die der Brunnenhexe gegenübersaß, wandte sich nach ihr um und zog die Augenbrauen hoch. Dann warf sie der Hexe einen Blick zu, die nickte kaum merklich, und die Frau musterte sie von Neuem mit unverhohlener Neugier. Tonja straffte die Schultern, und die Gäste wandten sich wieder ihrer eben unterbrochenen Unterhaltung zu. Tonja setzte sich an die Theke und bestellte ein Radeberger. Die Wirtin war eine dralle Mittvierzigerin mit dunklem Haar, das sie zu einem Knoten zusammengebunden hatte. Mit hängenden Mundwinkeln und dünnen Lippen musterte sie Tonja mürrisch, während sie ihr Bier zapfte.
Durch eine Schwingtür, die wahrscheinlich in die angrenzende Küche führte, betrat ein zierlicher Mann, zwei prall ge-füllte Teller balancierend, den Schankraum. Als er Tonja sah, blieb er einen Moment verdutzt stehen.
»Was glotzt du so? Willst du das Essen kalt servieren?«, fuhr die Zapferin ihn an.
Der Mann wandte schnell den Blick ab und eilte an der Theke vorbei in den hinteren Teil der Gaststube, wo er die Teller vor zwei jungen Männern absetzte.
Tonja betrachtete die Frau hinter der Theke unauffällig. Ob die beiden verheiratet sind?, fuhr es ihr durch den Kopf. Wenn ja, ist hier alles irgendwie verdreht. Die Frau zapft, und der Mann serviert. Warum nicht, dachte sie und bedankte sich mit einem Lächeln, als die Wirtin ihr schweigend das Bier hinstellte. Tonja trank mit Genuss. Es ging doch nichts über ein frisch gezapftes Bier, vor allem, wenn das Wetter einen so dermaßen mit Wärme und Sonne verwöhnte wie in den letzten Wochen. Die Sommerferien waren in diesem Jahr bereits Anfang August zu Ende gegangen. Aber der Juli war tropisch warm gewesen, und die Wärme hielt unvermindert an.

Die junge Frau, die bei der Hexe gesessen hatte, stand auf, nahm ihren Rucksack und verließ mit gesenktem Kopf die Schenke. Die Hexe mischte ihre Karten, hob den Blick und sah Tonja herausfordernd an. Jetzt oder nie, dachte Tonja, nahm ihr Glas, rutschte vom Barhocker und ging langsam unter den forschenden Blicken der anderen Gäste auf die Hexe zu.
»Setz dich, Antonia«, sagte die mit einer jugendlichen Stimme, die ebenso wenig wie ihr Äußeres zu einer Hexe passte, und wies mit einer zierlichen Hand auf den Stuhl, den die junge Frau soeben verlassen hatte.
»Ich heiße Tonja.«
»Von mir aus. Ich heiße Veritas.«
Tonja schluckte. »Veritas. Ist das Ihr Ernst?«
»Ja, Künstlername. Steht für Wahrheit.« Die Hexe lächelte. »Eigentlich heiße ich Veronika.«
Tonja zuckte mit den Mundwinkeln und setzte sich. »Und woher wissen Sie, wer ich bin?«
»Liebchen, ich weiß vieles. Aber in deinem Fall ist das keine Kunst. Dich kennt hier jeder.«
»Ach.«
Tonja sah sich reflexartig um. Sie wurden beobachtet. Die Brunnenschenke war gut besucht. Es gab einen Stammtisch, an dem fünf Männer in mittleren Jahren und eine junge Frau saßen. Sie unterhielten sich leise und sahen immer wieder zu den beiden Frauen herüber. An einer langen Tafel saß ein Dutzend Leute beieinander, die jetzt ihre Gläser hoben und eine aus ihrer Mitte, eine Frau mit einem Strohhut, von dessen Krempe buntes Geschenkpapier wie ein Schleier auf ihre Schultern fiel, hochleben ließen. Aber das Interesse galt hauptsächlich dem Geschehen in der Ecke.
Die Hexe nahm ihr Glas, kippte den Inhalt hinunter und gab der Wirtin ein Zeichen.
»Und wieso?« Tonja wurde ärgerlich, diese blöde Hexe behandelte sie wie ein kleines Mädchen. »Hab ich irgendwas Verwerfliches an mir? Jemanden verprügelt, eine Revolte verursacht, mich als Bürgermeisterin zur Wahl gestellt oder mich sonst wie danebenbenommen?«
Die Hexe sah sie mit leichter Verwunderung an, legte ihre Karten beiseite und nahm Tonjas Hand.
»Du hast das Haus deines Vaters geerbt, Liebchen. Das Haus im Schieferweg, nicht wahr?«
»Ja, und?« Tonja entriss der Hexe ihre Hand. »Lassen Sie das.« Tonja blieb konsequent beim Sie.
Die Hexe lächelte milde. »Ein andermal«, sagte sie leise. Die Wirtin trat an ihren Tisch, brachte der Hexe ihr Getränk. »Noch ’n Bier?«, fragte sie Tonja, die gar nicht bemerkt hatte, dass sie ihr Glas bereits geleert hatte.
»Nein«, sagte sie barsch und an die Hexe gewandt. »Und Sie sagen mir jetzt, wieso ich hier für alle so interessant bin.«
»Mein Liebchen ...«
»Nennen Sie mich nicht so!«
Die Hexe sah sie erstaunt an, ließ sich aber nicht beirren. »Mein liebes Kind ... du bist deiner Mutter so ähnlich. Sie war auch so schnell wütend wie du ... und auch so schön.«
Tonja kicherte. »War? Lassen Sie sie das nicht hören. Woher kennen Sie sie überhaupt?«
Die Hexe hob verwundert die Brauen. »Hat deine Mutter dir denn nichts erzählt? Wir sind zusammen zur Schule gegangen, waren ... Freundinnen.«
»Tatsächlich.« Das hatte ihre Mutter in der Tat nicht erwähnt, als sie über die Brunnenhexe gesprochen hatten. Tonja hatte eher den Eindruck gehabt, dass sie die Hexe nicht ausstehen konnte. Und nun erfuhr sie, dass sie früher befreundet gewesen waren.
»Ist das der Grund, warum mich hier alle kennen? Weil ich meiner Mutter so ähnlich bin? War sie denn so eine Berühmtheit?«
Die Hexe nahm den Kartenstapel wieder auf. »Mir scheint, deine Mutter hat etwas entschieden, und ich will mich nicht noch einmal in ihre Angelegenheiten einmischen. Sag ihr das.« Sie nahm einen kräftigen Schluck von der dunklen Flüssigkeit aus ihrem Glas. Es roch nach Kräutern. Tonja verzog das Ge-sicht.
»Vielleicht kommst du wieder, und wir befragen die Karten. Sie geben dir viele Antworten.«
»Quatsch.« Tonja stand abrupt auf. »Ich gehe jetzt.« Sie tippte sich an die Stirn und sah herausfordernd in die Runde. »Wir sehen uns«, sagte sie lauter, als sie wollte, und selbstsicherer, als sie sich fühlte. Sie knallte einen Fünfer auf die Theke, was ihr Budget für Luxusgüter wie Bier für den Rest des Monats unverhältnismäßig belastete. »Stimmt so.« Damit verließ sie die Schenke und trat auf die Straße.
Wärme empfing sie, wenige Touristen waren noch unterwegs, wohl auf dem Heimweg zu ihren Hotels oder Pensionen. Sie sah auf die Uhr. Kurz nach zehn. Zu früh zum Schlafengehen, fand sie. Aber, wenn man den ganzen Tag auf Bergen herumkraxelte, blieb nicht mehr viel Energie für den Abend übrig. In diesem Moment vermisste sie Hannover. Die Kneipen, die Kultur, die vielen Menschen, die auch spätabends die bunte Lindener Szene bevölkerten. Sie schüttelte sich. Das war gestern. Hier und jetzt wartete etwas Neues auf sie. Und etwas Unbekanntes. Ihre Mutter verheimlichte ihr etwas. Etwas Wichtiges, und sie wollte herausfinden, was es war. Es musste mit ihrer Kindheit in Goslar zusammenhängen. Sie ging entschlossen ihres Wegs.