Leseprobe Rathausmord





Prolog




Die Herbstsonne hatte die Stadt bereits in ein warmes Licht getaucht,


als der Schrei die Zeit anhielt. Er wehte von der Kuppel


des Neuen Rathauses herüber, wälzte sich in klagendem Falsett


über den spiegelglatten Maschteich, ließ die langen Blätter der


Trauerweiden erzittern und erstarb dann langsam und quälend


im Nichts.


Passanten, die den Park durchquerten, blieben stehen und warfen


einander ungläubige Blicke zu. Erholungssuchende, die die


warmen Tage dieses goldenen Oktobers auf einer Bank am Teich


genießen wollten, saßen sekundenlang starr vor Schreck. Nur


der Autoverkehr rollte weiter, unbeeindruckt von der Tragödie,


die sich ganz in der Nähe abgespielt haben musste, und die Enten


zogen ungerührt ihre Bahnen, suchten kopfunter nach Futter und


säuberten ihr Gef ieder, als wäre nichts geschehen.


Langsam nahm die Zeit wieder Fahrt auf. Menschen liefen


zusammen, stellten Fragen und wiesen mit den Fingern zur Rathauskuppel.


Wenige Minuten später näherte sich Sirenengeheul.








EINS




Die Neue war eine Herausforderung. Das hatte Charlotte gleich


bemerkt. Sie stand da, in ihrem schwarzen Kostüm mit der hellroten


Bluse, die Füße in schwarzen Pumps mit akzeptablen Absätzen.


Akzeptabel hieß, dass sie wahrscheinlich noch in der Lage


sein würde, die Flucht zu ergreifen und davonzulaufen, falls das


nötig sein sollte.


Aber das war ja Quatsch, von Flucht konnte keine Rede sein.


Auch wenn Charlotte es sich noch so sehr wünschte, sie und ihr


Team hatten diese Frau am Hals, und sie würden sich mit ihr


arrangieren müssen. Dabei hatten sie alle frohlockt, als ihr vormaliger


Chef, Kriminalrat Ostermann, sich endlich widerstrebend in


den Ruhestand begeben hatte. Ein leises Bedauern schlich sich in


Charlottes Gedanken, während sie die Frau beobachtete, die mit


ihrer weizenblonden, praktischen Kurzhaarfrisur vor Dynamik nur


so strotzte.


Hatte sie das gerade richtig verstanden? Kinderkrippe im Zentralen


Kriminaldienst? Sie warf Rüdiger Bergheim, ihrem Lebensgefährten


und Kollegen, einen ungläubigen Blick zu. Aber der


bemerkte sie gar nicht, war offensichtlich völlig hingerissen von


der Chefin.


Und den anderen im Team schien es genauso zu gehen. Schliemann


saß da, die Arme vor der Brust verschränkt, die Mundwinkel


leicht nach oben verzogen. Er nahm wohl schon Anlauf für die


nächste Eroberung. Immerhin, das versprach amüsant zu werden.


Charlotte hatte nicht den Eindruck, dass die Kriminalrätin Gesine


Meyer-Bast eine leichte Beute sein würde, aber Schliemann


neigte dazu, sich in dieser Beziehung zu überschätzen. Der Grund


dafür war seine für Charlotte unverständliche Anziehungskraft auf


Frauen. Glücklicherweise nicht auf alle, das ließ hoffen.


Charlotte blickte sich verstohlen um, während Meyer-Bast


unverdrossen über Neustrukturierung und effizientes Arbeiten


dozierte. Thorsten Bremer nickte beifällig, während Martin Hohstedt


mit seiner Armbanduhr spielte. Na, wenigstens der schien


immun zu sein gegen die strahlende, eloquente neue Vorgesetzte.



6






Wahrscheinlich war er in Gedanken wieder bei seinem Hobby. Er


war neuerdings unter die Segler gegangen und hatte im Sommer –


zu Charlottes Leidwesen – viel Zeit mit Rüdiger auf dem Maschsee


auf einem Segelboot verbracht.


Applaus brandete auf, und die Mitglieder des Zentralen Kriminaldienstes


der Kripo Hannover erhoben sich von den Stühlen,


um sich endlich am Büfett zu bedienen.


Charlotte ließ Lachskanapees und Käsehäppchen links liegen und


holte sich Kaffee. Rüdiger und Hohstedt luden sich die Teller voll,


während Maren Vogt sich zu Charlotte gesellte.


»Wie findest du sie?«, fragte sie leise und schob sich einen


Kräcker mit Avocado-Dip in den Mund.


Charlotte zuckte die Achseln und gab einen undefinierbaren


Laut von sich. Was sollte sie auch sagen? Dass sie die neue Chefin


nicht leiden konnte? Wenn sie wenigstens einen Grund dafür


liefern könnte. Aber das konnte sie nicht, denn sie hatte bisher


noch kein persönliches Wort mit der Kriminalrätin gewechselt


und auch sonst keinen Grund, sie nicht zu mögen. Im Gegenteil,


sie wirkte durchaus sympathisch.


»Also, ich find sie ganz nett. Bis jetzt«, sagte Maren.


»Na, warten wir’s ab.« Charlotte runzelte die Stirn. Meyer-Bast


hatte sich zu Rüdiger und Hohstedt gesellt, der aus allen Knopflöchern


strahlte. Die drei schienen sich blendend zu unterhalten.


Charlotte trank ihren Kaffee aus. »Ich geh in mein Büro, hab noch


was zu tun.«


»Ah ja?« Maren strich sich die roten, halblangen Haare zurück.


»Was denn? Ist doch im Moment ziemlich ruhig.«


»Sag doch so was nicht. Es ist nie ruhig. Wir kriegen den Lärm


bloß nicht immer mit.«


Charlotte wollte sich gerade aus dem Staub machen, als Gesine


Meyer-Bast ihren Namen rief. »Frau Wiegand, mit Ihnen wollte


ich sprechen.« Die neue Chefin kam lächelnd auf sie zu und reichte


ihr die Hand. »Wir haben uns noch gar nicht kennengelernt.«


Mist, dachte Charlotte, lächelte aber und ergriff die dargebotene


Hand.


»Ihnen eilt ja ein beeindruckender Ruf voraus.«


»Wirklich?«



7





Charlotte wusste sehr genau, welcher Ruf ihr vorauseilte. Genau


genommen waren es zwei. Der eine betraf ihren beruflichen Erfolg,


der beachtlich war. Sie hatte bisher alle Mordfälle gelöst – bis


auf einen, den sie als ihr ganz persönliches Desaster bezeichnete


und den sie keinesfalls als abgeschlossen betrachtete, obwohl die


Ermittlungsakte geschlossen war. Den anderen Ruf hatte sie ihrem


Ex-Chef Ostermann zu verdanken. Er betraf ihren Charakter. Der


hatte sie mal als renitent, ungeduldig und respektlos bezeichnet.


Charlotte ahnte zwar, dass außer Ostermann auch einige Mitglieder


des Teams ihr diese Attribute zuschrieben – zu ihnen gehörte mit


Sicherheit auch Hohstedt –, aber im Grunde kam sie mit ihren


Leuten gut zurecht. Das galt auch im umgekehrten Fall. Und das


war ihr wichtig, denn ohne ihr Team würde ihre Erfolgsbilanz


anders aussehen. Das wusste Charlotte, und sie machte auch kein


Geheimnis aus diesem Wissen.


Jetzt stand ihr die neue Chefin lächelnd gegenüber, und wahrscheinlich


war sie von Ostermann einseitig informiert worden.


Das war euphemistisch ausgedrückt, aber die Wahrheit. Wie auch


immer, Charlotte hatte keine Ahnung, von welchem ihrer beiden


Leumunde Meyer-Bast gerade sprach, und hüllte sich vorsichtshalber


in Schweigen.


»Natürlich«, sagte Meyer-Bast. »Ihre Aufklärungsquote ist legendär,


aber das wissen Sie sicher.«


Aha, dachte Charlotte und lächelte auch, vielleicht ist sie ja


doch ganz nett.


»Ich glaube jedenfalls, dass wir uns gut vertragen werden.«


»Das hoffe ich auch«, antwortete Charlotte und hätte diese


Antwort am liebsten gleich wieder zurückgenommen. Warum


konnte sie bloß nie nett sein, wenn es darauf ankam? Die Frau hatte


ihr ja noch gar nichts getan. »Vielmehr«, fügte sie dann versöhnlich


hinzu, »bin ich mir sicher, dass wir gut zusammenarbeiten werden.«


Meyer-Bast nickte ihr zu und wandte sich dann an Thorsten


Bremer, der schon in den Startlöchern stand, um sich bei der


Chefin lieb Kind zu machen.


Schleimer, dachte Charlotte und ging in ihr Büro. Ihr Schreibtisch


war aufgeräumt, und eigentlich war außer einer Recherche


über eine Schülerin, die im Internet zu einem Massenselbstmord


aufgerufen hatte – Gott sei Dank ohne große Resonanz –, nichts


8





Dringendes zu erledigen. Charlotte konnte sich im Moment selbst


nicht leiden. Wenn sie ehrlich war, machte Gesine Meyer-Bast


einen ganz netten Eindruck. Wenn sie nur nicht so attraktiv wäre!


Glücklicherweise klingelte das Telefon. Charlotte nahm ab. Es


war Velber von der Anmeldung. Eine Frau wolle unbedingt mit


Kommissarin Wiegand sprechen, sagte er, und sie ließe sich nicht


abwimmeln. Charlotte legte auf und machte sich auf den Weg ins


Erdgeschoss, wo an der Anmeldung eine Frau in den Dreißigern


saß und auf sie wartete. Als sie Charlotte sah, sprang sie auf und


ging schüchtern auf sie zu.


»Frau Wiegand, ich bin so froh, dass Sie Zeit haben«, sagte sie


und hielt ihr die Hand hin.


»Äh, worum geht es denn?«


»Also, Hildebrandt heiße ich, Kathrin Hildebrandt. Ich würde


gern mit Ihnen sprechen. Es geht um meine Freundin.«


»Aha.« Charlotte war jetzt zwar kein bisschen schlauer, ging


aber mit der Frau in eines der Befragungszimmer, wo sie Platz


nahmen.


Kathrin Hildebrandt blickte sich zunächst unsicher um, rutschte


dann nach vorn auf die Sitzfläche ihres Stuhls und stellte ihre


Handtasche vor sich auf den Tisch.


»Wissen Sie«, begann sie und kramte dabei in ihrer Tasche


herum, »meine Freundin ist … war die, die von der Rathauskuppel


gefallen ist.«


»Ach, der Selbstmord vom letzten Freitag.«


Charlotte wusste natürlich von dem spektakulären Sturz vom


Rathaus, und soweit sie informiert war, war die Frau von einer der


vier Aussichtsplattformen gesprungen und die fast fünfzig Meter


bis zum Fuß der Kuppel auf das Flachdach des dritten Stockwerks


hinabgestürzt. Das zumindest hatte Schliemann erzählt, nachdem


er am Freitag die Zeugen, die zur selben Zeit auf der Kuppelspitze


gewesen waren, befragt hatte.


Hildebrandt hörte auf zu kramen und blickte Charlotte mit


großen vorwurfsvollen Augen an.


»Sehen Sie, darum geht es. Ich will Ihnen ja keine Arbeit machen,


aber ich glaube nicht, dass Franzi … Franziska sich umgebracht


hat. Nie und nimmer!«


»Tatsächlich?« Charlotte horchte auf.


9






Sie hatte sich natürlich auch gefragt, wieso sich jemand ausgerechnet


vom Rathausturm stürzen sollte, aber die Alternativen


waren ebenso unwahrscheinlich. Die Aussichtsplattformen waren


gut gesichert, sodass ein Unfall eigentlich ausgeschlossen war. Und


Mord? Das konnte Charlotte sich ebenso wenig vorstellen. Wenn


man jemanden umbringen wollte, dann gab es doch weniger


spektakuläre Möglichkeiten. Und außerdem war die Zahl der


Verdächtigen dadurch äußerst begrenzt. Es kamen ja nur die als


Täter in Frage, die zur selben Zeit oben waren, und man musste


doch befürchten, gesehen zu werden. Also, da war ein Selbstmord


doch wahrscheinlicher.


Hildebrandt zog einen Zettel aus ihrer Handtasche, faltete ihn


auseinander und reichte ihn Charlotte.


»Diese E‑Mail hat mir Franzi am Donnerstag geschickt. Ich


hab sie ausgedruckt. Leider guck ich nicht oft in meine Mails,


und außerdem war ich so geschockt über ihren Tod, dass ich den


Brief erst gestern gefunden habe. Da, schauen Sie selbst.«



Charlotte nahm den Zettel in Empfang und las: Liebe Kathrin,


hast du am Samstagabend Zeit? Wir könnten uns um sieben Uhr im


»Bavarium« treffen. Ich hab dir was zu erzählen. Melde dich bald, es ist


wichtig. Lieben Gruß, Franzi.




»Na, was sagen Sie? Da stimmt doch was nicht. Und außerdem


hätte ich das gemerkt, wenn Franzi unglücklich gewesen wäre. Wir


haben doch vor zwei Wochen noch ihren Geburtstag gefeiert. Da


war sie wie immer.«


Charlotte faltete das Blatt langsam zusammen. »Sagen Sie, Frau


Hildebrandt, wieso kommen Sie denn damit zu mir? Ich meine …«


»Sie erinnern sich nicht mehr an mich, oder? Na ja, Sie haben


ja auch eine Menge um die Ohren, und es ist schon ein paar Jahre


her, und ich heiße jetzt auch anders. Aber Sie haben mir mal das


Leben gerettet.«


»Tatsächlich?«


»Ja, Ralf Zölly, mein damaliger Mann, er hätte mich fast umgebracht,


wenn Sie nicht gekommen wären.«


Charlotte dämmerte es. Natürlich, Kathrin Zölly, die sich mehrmals


von ihrem betrunkenen Mann hatte windelweich schlagen


lassen. Als er sie zum Schluss beinahe erwürgt hätte, war Charlotte


gerade noch rechtzeitig dazwischengegangen und hatte einige



10





blaue Flecken davongetragen, bevor Bremer den Kerl endlich hatte


überwältigen können. Aber ohne die Blessuren im Gesicht hatte


Charlotte die Frau nicht erkannt.


»Wie geht’s Ihrem Ex-Mann?«


»Nicht gut.« Kathrin Hildebrandt lächelte. »Er ist krank, kann


sich kaum noch rühren, hatte einen Schlaganfall.«


»Na wunderbar«, murmelte Charlotte, und Hildebrandts Lächeln


wurde noch etwas breiter.


»Um auf Ihre Freundin zurückzukommen, könnte es nicht auch


ein Unfall gewesen sein?«


Hildebrandt schüttelte heftig den Kopf. »Franzi war immer


total vorsichtig. Sie war ein bisschen empfindlich, was Höhen


anbelangte, konnte nicht gut an steilen Abgründen stehen. Das


weiß ich, weil wir mal auf einem Leuchtturm auf Amrum waren,


da hat sie auch nur in die Ferne geguckt und nicht direkt nach


unten. Außerdem, wie soll denn das vor sich gehen? Man fällt


doch nicht aus Versehen von der Rathauskuppel. Da muss man


sich ja total bescheuert anstellen.«


Charlotte musste der Frau recht geben. Das war in der Tat


merkwürdig, obwohl ein Unfall nie ausgeschlossen war. Aber


laut Schliemann hatte niemand gesehen, was genau passiert war.


Alle Zeugen hatten unter Schock gestanden. Natürlich stand die


Obduktion noch aus. Charlotte nahm an, dass Dr. Wedel das heute


oder morgen in Angriff nehmen würde. Sie stand auf.


»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Wir gehen jetzt zu


einem Kollegen und werden Ihre Aussage aufnehmen. Wenn


die Leiche obduziert ist, werden wir weitersehen. Auf jeden Fall


kümmere ich mich um die Sache.«


Kathrin Hildebrandt ergriff Charlottes Hand. »Ich danke Ihnen.


Es … es war doch richtig zu kommen, nicht wahr? Sie halten mich


nicht für hysterisch oder so?«


»Sie haben alles richtig gemacht«, beruhigte Charlotte die Frau.


»Sie erzählen das jetzt alles noch mal genau meinem Kollegen, und


falls sich neue Hinweise ergeben, hören Sie von mir.«


Auf dem Weg in ihr Büro stellte Charlotte fest, dass die Party im


großen Besprechungsraum wohl vorbei war, denn die Kollegen


saßen wieder an ihren Schreibtischen oder standen schwatzend



11





beieinander. Charlotte seufzte still. Eigentlich sollte sie froh sein,


dass sie Ostermann los war. Sie waren zwar in der KFI die letzten


Wochen auch ohne Chef ganz gut zurechtgekommen, fand


Charlotte, aber der Polizeipräsident war wohl anderer Ansicht.


Na ja, vielleicht hatte er auch recht. Irgendwer musste wohl den


Überblick behalten, wenn die Teams sich um die Verbrechensbekämpfung


vor Ort kümmerten.


Sie ging zu Schliemann, der mit Maren flirtete. Charlotte fand


ihn schrecklich selbstverliebt und hätte ihm am liebsten die Nase


umgedreht.


»Kann ich dich mal kurz sprechen? Es geht um die Frau, die


vom Rathausturm gestürzt ist. Gerade war eine Frau Hildebrandt


da, sie hat Zweifel an der Selbstmordtheorie.«


Schliemann verdrehte die Augen. »Woher will sie das wissen,


sie war ja wohl nicht mit oben.«


Charlotte reichte Schliemann den Zettel. »Diese E‑Mail hat die


Frau einen Tag vor ihrem Tod geschrieben. Vielleicht wirfst du


erst mal einen Blick drauf, bevor du irgendwelche Schlüsse ziehst.«


»Entschuldige, Maren«, sagte Schliemann betont höflich, »wir


reden nachher weiter, wie du siehst, ruft die Pflicht.« Er faltete


gelangweilt das Blatt auseinander und las.


»Ja und, was heißt das schon? Vielleicht war sie ja todunglücklich


und wollte deshalb mit ihrer Freundin reden. Und dann hat sie auf


dem Rathaus kurzen Prozess gemacht. Und außerdem war es ja


nicht die Tote, die geschrien hat, sondern die Rathausangestellte,


die sie gefunden hat. Frauen, die irgendwo runterfallen, schreien


doch. Es hat aber niemand was von zwei Schreien gesagt, alle haben


nur einen gehört.«


»Vielleicht war sie bewusstlos, als sie fiel. Durch einen Schlag


auf den Kopf zum Beispiel.«


»Hör mal, ich hab mit den Leuten gesprochen, die oben waren.


Die waren alle fix und fertig, und gesehen hat keiner was.«


»Ja, findest du das nicht seltsam?« Charlotte lehnte sich an Schliemanns


Schreibtisch, während er sich auf seinen Stuhl fallen ließ


und den Computer anwarf.


»Warst du schon mal da oben?«, fragte er und ruckte mit der


Maus herum.


»Ja, ist aber lange her.«



12





»Dann solltest du noch mal hochfahren. Erstens wegen der


Aussicht und zweitens kannst du dir dann die Örtlichkeiten genau


ansehen. Die Kuppelspitze hat vier Etagen, die du von der Wendeltreppe


im Innern erreichen kannst. Jedenfalls hatten sich die


zehn Leute auf die vier Etagen verteilt, beziehungsweise sind die


Wendeltreppe rauf- oder runtergestiegen, je nachdem. Und dann


haben sie den Schrei gehört. Keiner wusste, was passiert war. Alle


sind rumgelaufen wie gestochen … hier.« Schliemann drehte ihr


den Bildschirm zu, wohl um seinen Worten Gewicht zu verleihen,


Charlotte hatte allerdings nicht die Absicht, sich jetzt jede einzelne


Zeugenaussage durchzulesen.


»Wer hat den Sturz gemeldet?«


»Jemand hat angerufen, dass am Rathaus irgendwas passiert sein


muss. War gerade in der Culemannstraße unterwegs.« Schliemann


scrollte den Bildschirm hinunter. »Gisbert Winkenbach heißt er,


arbeitet in der Sparkasse. Jedenfalls hat er einen Notruf abgesetzt.


Und nicht nur er, insgesamt haben acht Leute angerufen. Alle, weil


sie den Schrei dieser Frau gehört haben, die die Leiche gefunden


hat. Gesehen hat keiner was. Wussten selber nicht, was los war. Ich


hab von allen säuberlich die Personalien aufgelistet. Kannst dich


gern selbst überzeugen.«


»Was ist mit der Frau, die die Leiche entdeckt hat?«


»Oh Mann.« Schliemann seufzte. »Gisela Brink heißt sie, war


völlig von der Rolle. Sie war zur fraglichen Zeit im Materialienraum


im dritten Stock, und auf dem Flachdach des dritten Stocks


ist die Leiche gelandet, ist der Brink also quasi aufs Dach gefallen.


Die hat den Aufprall gehört und ist auf das Flachdach gegangen,


um nachzusehen. Na ja, sie hat die Tote gefunden und losgeplärrt.


Das war alles, was ich aus ihr herausbekommen habe.«


»Sonst hat niemand was bemerkt?«


»Nein, die Brink war zur fraglichen Zeit allein in dem Raum.«


Charlotte beobachtete versonnen eine Spinne, die langsam über


Schliemanns Stuhllehne krabbelte. Es war eine recht kleine Spinne,


klein genug, um ihre Gegenwart zu ignorieren.


»Ist doch merkwürdig, dass keiner gesehen hat, wie die Frau


runtergestürzt ist«, überlegte sie.


»Finde ich nicht. So ein Sturz geht schnell.« Schliemann kicherte,


schob die Maus beiseite und lehnte sich zurück. »Die, die oben



13




waren, haben nichts mitgekriegt, und von unten? Was soll man da


sehen? Wie jemand einen anderen runterschubst? Das ist viel zu weit


weg. Da muss man schon genau hingucken, und selbst dann …«


»Was waren das für Leute, die oben waren?«


»Die gehörten alle zu einer Werbeagentur. Bis auf die letzte


Fahrstuhl-Fuhre, die kam aber erst oben an, als die Leiche bereits


gefunden worden war. Also Salzmann & Sporck, so heißt die


Werbeagentur, hat ihr Büro an der Podbi. Und die haben vom


Stadtmarketing den Auftrag, eine Image-Broschüre für Hannover


zu entwerfen, und da haben die beiden Chefs sich gedacht, wir


schicken die ganze Bagage erst mal auf die Rathauskuppel, zur


Inspiration. Na, und dass die Texterin sich dann ausgerechnet zu


diesem Anlass in den Tod stürzen will, das hat ja keiner ahnen


können.« Schliemann verschränkte die Arme vor seiner breiten


Brust. »Die waren alle total fertig, um nicht zu sagen hysterisch.


Der Chef hat gesagt, dass sie den Auftrag wohl abgeben werden.


Keiner kann sich vorstellen, den jetzt noch auszuführen.«


Charlotte rieb sich über die Augen. »Das ist doch komisch.


Wenn die sich umbringen wollte, warum dann auf diese Weise


und warum der Brief an ihre Freundin?«


»War bestimmt eine Kurzschlusshandlung. Und manche Leute


verabschieden sich eben gern mit einem Paukenschlag.«


Charlotte schüttelte langsam den Kopf. »Ich finde das äußerst


merkwürdig. Man springt nicht einfach kurzerhand aus einer solchen


Höhe in den Tod, vor allem nicht, wenn man wie das Opfer


eine leichte Höhenangst hat.«


»Wenn man sich umbringen will, kommt’s auf die Höhenangst


ja wohl auch nicht mehr an«, murmelte Schliemann.


»Oh doch«, widersprach Charlotte. »Wenn ich mich von dieser


Welt verabschieden will und eine Wasserphobie habe, dann mache


ich’s mir doch nicht noch unnötig schwer und gehe ins Wasser,


oder? Ich werd mich da oben mal umsehen. Weißt du, wann Wedel


die Obduktion angesetzt hat?«


»Soweit ich weiß, heute Nachmittag. Ist auch nicht mehr so


schnell wie früher, der alte Wedel. Aber ist das ein Wunder?«


Schliemann gluckste. »Wenn ich so viel Gewicht mit mir rumschleppen


würde, wär ich auch keine Rakete.«


Charlotte betrachtete Schliemann unwillig. »Können nicht alle



14




so schön sein wie du. Hatte die Tote Verwandte? Haben die sich


zu dem Selbstmord geäußert?«


Schliemann wand sich ein wenig. »Also, das ist so eine Sache.


Ich hab zwar den Namen ihrer Mutter, aber die liegt im Henriettenstift,


ist gerade frisch operiert. Hat Krebs und lag am Samstag


noch auf der Intensivstation.«


»Und gestern?«


»Gestern … auch noch.«


»Was soll das heißen? Dass die Frau noch nichts vom Tod ihrer


Tochter weiß?«


Ȁhm, ich hab der Schwester und dem Arzt Bescheid gegeben,


dass sie mich anrufen sollen, wenn sie wieder ansprechbar ist. Bis


jetzt haben die sich noch nicht gemeldet.«


Charlotte war für einen Moment sprachlos, sie fand, dass


Schliemann es sich verdammt einfach machte. Sie würde die Frau


aufsuchen müssen. Aber sie nahm sich vor, es Schliemann bei der


nächsten Gelegenheit heimzuzahlen.


»Was war mit ihrer Wohnung? Ist dir da was aufgefallen?«


»Nee, alles normal, bisschen unordentlich vielleicht. Jedenfalls


würde ich nicht so mit meinen CDs umgehen.«



»Hast du ihr Handy und den Computer beschlagnahmt?«


Schliemann guckte verdutzt. »Äh … nein.«


»Wie, nein?«


»Also, jetzt wo du’s sagst … wir haben weder ein Handy noch


einen Computer in der Wohnung gefunden.«


»Und sie hatte kein Handy bei sich?«


»Nein. Jedenfalls hab ich in ihrer Tasche keins gefunden, und


rausgefallen ist es bestimmt nicht. Die Umhängetasche lag ganz


in ihrer Nähe, und der Reißverschluss war zu. Außerdem haben


wir ja das Dach abgesucht. Da war nichts.«


»Na klasse, du gehst jetzt sofort in die Agentur und beschaffst


mir ihren Firmencomputer. Und dann lass ihr Handy orten.«


Damit ließ sie Schliemann sitzen, um sich mit ihrer Chefin über


das weitere Vorgehen zu einigen. Innerlich wappnete sie sich für


eine Auseinandersetzung. Einfach, weil sie es so gewohnt war. Mit


Ostermann hatte es ständig Auseinandersetzungen gegeben. Sie


musste sich bemühen, unvoreingenommen zu sein. Mit diesem


Vorsatz klopfte sie an die Tür ihrer neuen Vorgesetzten.


15