Leseprobe
M A R I O N G R I F F I T H S - K A R G E R
Ein Pferd im
Kornfeld
H E I D E K R I M I
Ein Pferd ohne Reiter
Die Pferdekoppel vor der Scheune des Landmeier-Hofes lag
im nachmittäglichen Licht der späten Julisonne. Auf der nahen
Dorfstraße hörte man das Hufgeklapper von schweren Zugpferden,
die einen mit Touristen besetzten Kutschwagen durch
das Dorf zogen. In der Ferne donnerte es, aber die dunklen
Wolken, die sich am Horizont hinter dem noch blassen Purpur
der Heidehügel auftürmten, schienen das kleine Linderwald
nicht weiter zu beachten und regneten sich über der Stadt aus.
»Irgendwann schmieren sie den Pferden noch Nagellack auf
die Hufe oder Creme auf den Hals, wegen der Falten«, gluckste
Caspar Landmeier und kippte eine Schubkarre Mist auf den
Misthaufen.
Seine Frau Helga, die gerade einen Eimer Wasser in den Pferdetrog
entleert hatte, beschirmte die Augen mit der Hand und
blickte zu den beiden Frauen hinüber, die sich auf der Koppel
damit abmühten, einem widerspenstigen Rappen die Nüstern
zu putzen. Sie zuckte mit den Schultern. »Kann uns doch egal
sein, Hauptsache, sie zahlen pünktlich.«
»Tun sie ja nicht«, raunte Landmeier zurück, drehte sich um,
umklammerte die Griffe der Schubkarre und zog sie hinter sich
her zu den Boxen.
Drei hatte er heute geschafft, noch nicht mal die Hälfte. Und
dabei tat ihm der Rücken jetzt schon weh. Er würde ja was drum
geben, wenn die ehrenwerte Frau Simone von Freiwald-Osterlitz,
die ihrem Gaul so hingebungsvoll die Nase putzte, mal eine
Mistgabel in die Hand nehmen würde. Und das Fräulein Tochter
auch. Aber die waren sich zu fein, obwohl sie doch kein Geld
mehr hatten, das wusste jeder in Linderwald. Verarmter Adel
nannte sich das.
War ihm aber ganz egal, wie man das nannte. Seine Familie
war darauf angewiesen, dass die Pferdemuttis – so wurden auf
dem Landmeier-Hof die Einsteller genannt, zumindest die
weiblichen, die ihren Pferden Schlaflieder sangen, wenn’s drauf
ankam – pünktlich ihre Miete bezahlten. Natürlich nahmen sie
das Wort »Pferdemuttis« nur am Familientisch in den Mund und
flüsterten es, damit es keiner hörte, sonst würde diese Schnepfe
vom verarmten Adel noch ihre drei Pferde woanders unterbringen,
womöglich beim Fuhrbacher.
Dabei würde es ihm im Grunde gar nichts ausmachen. Was
nutzte ihm eine adlige Schnepfe, die zwar drei Boxen besetzte,
aber die Rechnungen immer nur mit Verzögerung bezahlte.
Wenn überhaupt. Aber das würde ihm Helga schwer verübeln,
wenn er die Osterlitze vergraulte. Helga hatte eine Vorliebe für
die Blaublütigen.
Caspar stapfte müde in die vierte Box und beförderte die erste
volle Mistgabel mit geübtem Schwung in die Karre. Und außerdem
streuten sie immer zu viel über. Der Mist stand ja fast einen
Meter hoch in der Box. Das war ein ständiges Ärgernis, aber die
Pferdemuttis machten es sich halt gerne bequem. Warum auch
nicht? Würde er auch nicht anders machen, wenn andere Leute
den Mist wieder raustragen mussten.
Das machte ihn wütend, jedes Mal, wenn er mistete. Aber
wenn er mistete, war er sowieso wütend. Auf alles und jeden.
Und eigentlich war das auch nicht seine Aufgabe, aber sein Herr
Sohn musste sich ja den Zeh brechen. Das kam davon, wenn man
nicht mit Pferden umgehen konnte und sich von ihnen auf die
Füße treten ließ. Wieso allerdings ein gebrochener Zeh einen
gesunden, starken Dreißigjährigen wochenlang davon abhalten
konnte, die Pferdeboxen auszumisten, war ihm sowieso ein
Rätsel.
Aber das war auch so eine Sache, in der Helga nicht mit sich
reden ließ. »Der Junge ist depressiv und braucht eine Auszeit«,
hatte sie gesagt und den Jungen in Urlaub geschickt. Dabei war
der selbst schuld an seiner Depression. Falls es wirklich eine war.
Für Caspar war es schlicht Faulheit.
Dabei war Arbeit doch das Beste, was einem wieder auf die
Füße half, wenn einem die Frau weggelaufen war. Und daran
war Matthis auch selbst schuld gewesen. Brachte ihnen da so
eine Barbie-Puppe auf den Hof. War doch klar, dass die das
nicht lange aushalten würde auf dem Land. Caspar hatte sich ja
sowieso gewundert, dass die den Matthis überhaupt genommen
hatte.
Bestimmt bloß, weil sie eine Pferdenärrin war, aber das
reichte eben nicht zum Überleben. Ab und zu musste man
auch mal was arbeiten, und als Verkäuferin verdiente man ja
wohl nicht die Welt. Eine Boutique hatte sie eröffnet. Meine
Güte, da lachten ja die Hühner, was sollte man denn in einem
Dreitausend-Seelen-Dorf wie Linderwald mit einer Boutique?
Hatte er gleich gesagt.
Aber hatte einer auf ihn gehört? Nein. Das hatten sie jetzt
davon. Die Boutique war pleitegegangen, Matthis hatte einen
Haufen Schulden am Hals, und Barbie war abgehauen – mit
einem Lehrer aus Lüneburg, dessen Stute bei ihnen auf der
Sommerweide gestanden hatte.
Caspar warf die Gabel weg, stieg aus der Box und schob
ächzend die Karre an. In der Box lag noch Mist für vier oder fünf
weitere. So ging das nicht weiter, er würde streiken. Sollte Helga
doch jemanden anstellen zum Misten oder es selber machen,
wenn der Herr Sohn zu depressiv dazu war. Er, Caspar, war
dann eben zu alt.
***
Luise zog die Zügel an. »Brrr«, kommandierte sie, und der
mächtige Kaltblüter zuckelte gemächlich an den Wegrand, um
die Touristen, die sie gerade durch die Heidelandschaft kutschiert
hatte, aussteigen zu lassen. Die Heide blühte zwar noch
nicht großflächig, aber die Landschaft lohnte allemal einen Ausflug,
und die Touristen waren zufrieden. Jetzt am frühen Abend
würden sie sich in die »Schnucken-Schenke« begeben, sich eine
üppige Mahlzeit aus Heidschnuckenbraten mit Rosmarinkartoffeln
einverleiben, sie mit einigen Gläsern Bier hinunterspülen
und irgendwann müde ins Hotelbett sinken. Morgen würde
man dann den gesundheitlichen Erfordernissen Genüge tun,
sich die Wanderschuhe anziehen oder ein Fahrrad ausleihen
und die Heidelandschaft mittels eigener Körperkraft erkunden.
Luise streichelte zärtlich die Mähne des alten Wallachs und
gab ihm eine Möhre. Sam war alles, was ihr geblieben war,
nachdem Lilly, ihre Tochter, vor fast acht Jahren verschwunden
war und ihr Mann Klaus sie zwei Jahre danach verlassen hatte.
Verlassen musste, um sich wieder ein Leben aufzubauen, hatte
er gesagt, ein Leben danach.
Aber Luise war aus ihrer Trauer nicht herausgekommen, bis
heute nicht. Und was war das überhaupt? Ein Leben danach?
Wonach? Lilly? Es gab kein Leben nach Lilly. Jedenfalls nicht
für Luise. Für sie war Lilly immer noch da. Irgendwo. Wie
konnte Klaus von danach reden? Sie waren doch mittendrin.
Luise hatte es nicht glauben können, als Lilly am Freitagnachmittag
des sechsten September vor neun Jahren und zehn
Monaten, kurz vor ihrem siebten Geburtstag, von der Schule
nicht nach Hause gekommen war. Bis heute nicht.
Es war ein heißer Sommer gewesen, damals. Auch der Frühling
war so mild gewesen, dass die Eichen schon Ende April
ein zartes Blattwerk getragen hatten. Wie oft war Luise den
Schulweg gegangen, der zwischen den Maisfeldern ins etwa
einen Kilometer entfernte Waldhof geführt hatte.
Normalerweise ging Lilly den Schulweg zusammen mit ihrer
Freundin Madeleine, und Luise und Madeleines Mutter kamen
ihnen bis zur Landstraße hinter den Feldern entgegen. Die
enge Straße war zwar für den Durchgangsverkehr gesperrt,
was aber sowohl die Eltern, die ihre Kinder mit dem Auto von
der Schule abholten, als auch die meisten Touristen konsequent
ignorierten.
Madeleine war an diesem Tag krank geworden. Sie hatte einen
Asthmaanfall bekommen, und ihre Mutter hatte sie abgeholt
und war sofort mit ihr ins Krankenhaus gefahren. Niemand
hatte daran gedacht, Luise zu benachrichtigen, die an diesem
Vormittag in die Stadt gefahren war. Also hatte Lilly sich allein
auf den Heimweg gemacht.
Eintausend Meter, nicht mehr und nicht weniger. Eintausend
Meter waren es, die fortan den Unterschied machten zwischen
Alltag und Hölle, zwischen unbeschwerter Normalität und dem
emotionalen Super-GAU.
Die Schule war fünf Jahre später geschlossen worden. Heute
wurden die Kinder mit dem Bus in die Stadt chauff iert. Wenn
Lilly fünf Jahre jünger gewesen wäre, würde sie heute noch
leben. Wenigstens war das Luises Überzeugung. Sie hätte auf
Klaus hören sollen, der Kinder erst viel später eingeplant hatte.
Bei Lillys Geburt war sie sechsundzwanzig gewesen, hatte
gerade ihr Studium beendet. Deutsch und Geografie hatte sie
unterrichtet am Gymnasium in Lüneburg. Aber das war vorbei.
Sie konnte nicht mehr zurück in ihren alten Beruf, den sie seit
Lillys Geburt nur stundenweise ausgeübt hatte, weil sie ihre
Tochter hatte aufwachen sehen wollen. Sie konnte ihre Schüler
danach einfach nicht mehr ertragen.
Immer wieder hatte sie Lillys Lehrerin damals befragt, ihre
Mitschülerinnen, die Nachbarn. Bis heute stand sie mit Kommissar
Werner, der die Suche nach ihrer Tochter geleitet hatte,
in Kontakt. Er war mittlerweile pensioniert, aber er war der
Einzige, der sie verstanden hatte. Bis heute verstand.
Er hatte selbst eine Tochter, die er seit seiner Scheidung vor
fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Seine Exfrau hatte das
Kind mit in die Staaten genommen. Damals war Meike sieben
Jahre alt gewesen. Das hatte ihr Werner in einem schwachen
Moment erzählt und dann nie wieder erwähnt. Aber Luise hatte
es nicht vergessen.
Sie waren Verbündete, der Kommissar und sie. Er hatte die
Akte Lilly Schönbrock nie geschlossen, obwohl mit den Wochen,
Monaten und Jahren niemand mehr daran glaubte, das
Mädchen lebend wiederzusehen, und alle zur Tagesordnung
übergingen. Nur Luise nicht. Sie wartete immer noch. Nachdem
Klaus gegangen war und sie später ihr Haus verlassen musste,
hatte Lorenz, der Wirt der Schnucken-Schenke, sie eingestellt,
als Mädchen für alles.
Morgens war sie Zimmermädchen und Kaltmamsell, mittags
Kellnerin, und nachmittags kutschierte sie Touristen durch die
Heide. Das alles erledigte sie mechanisch, ohne Lust, aber auch
ohne Verbitterung. Mittlerweile war sie für Lorenz unentbehrlich,
auch wenn seine Frau Anita das nicht so gerne sah. Sogar
seine alte Kutsche hatte er ihr geschenkt und für Sam einen Platz
in seiner Scheune gefunden. Dort leistete er nun Feuerspiel,
einem unruhigen Hannoveraner, auf dem Lorenz gelegentlich
ausritt, Gesellschaft.
Luise hatte einen Großteil ihrer Ersparnisse geopfert und das
Pferd dem reichen Bauern Frenzel aus Waldhof abgekauft, der
hatte es zum Schlachter geben wollen. »Frisst nur und bringt
nichts ein«, hatte er gesagt.
Zugegeben, das Pferd hatte eine schwere Bronchitis gehabt
und sich die Seele aus dem Hals gehustet. Und Bauer Frenzel
hatte weder Zeit für die Pflege noch das Geld für teure Medikamente
übrig gehabt – für ein nutzloses Pferd. Luise hatte beides.
Zu viel Zeit zum Nachdenken und gerade genug Geld auf dem
Sparkonto, um Frenzel, den Tierarzt und die Medikamente zu
bezahlen.
Damit waren ihre finanziellen Mittel erschöpft. Klaus
hatte ihr bei der Scheidung zwar großzügig die gemeinsamen
Ersparnisse überlassen, aber die hatte sie im Laufe der Jahre
aufgezehrt. Hatte ihre Tage damit verbracht, am Fenster ihres
kleinen Landhauses zu sitzen und auf ihre Tochter zu warten.
Das Landhaus hatte Klaus gehört, und der hatte es mittlerweile
verkauft.
Die neuen Besitzer hatten ihr gekündigt und waren selbst
dort eingezogen. Anfangs hatte Luise sich geweigert, das Haus
zu verlassen. Was sollte Lilly denken, wenn sie nach Hause
kam und niemand war da? Wohin sollte sie gehen? Die neuen
Besitzer hatten sie nur mitleidig angesehen und ihr dann die
Kündigung überreicht.
Luise hatte damals keine Ahnung gehabt, wohin sie gehen
sollte. Bis zum Schluss hatte sie sich an die Vorstellung geklammert,
im Haus zu bleiben. Es zu besetzen, das machten doch
viele so. Aber ihr hatte die Kraft gefehlt, und Lorenz hatte ihr
dann die kleine Einliegerwohnung seines Gasthauses angeboten,
und die Stelle als Zimmermädchen.
Die Schnucken-Schenke war ursprünglich ein Bauernhaus
gewesen. Lorenz’ Vater hatte es in den achtziger Jahren zum
Gasthaus mit Hotel umgebaut. Die alte Scheune stand immer
noch und war zu einer Art Bauernmuseum avanciert. Lorenz
hatte dort die alten Ackergeräte ausgestellt. Ein Vier-Schar-Pflug
mit Pferdedeichsel, eine Egge und sogar ein Kartoffelsortierer
konnten dort von den Touristen bestaunt werden. Vor sechs
Jahren hatte Lorenz die Schenke komplett renoviert und dem
alten Fachwerkhaus ein neues Innenleben verpasst.
Glücklicherweise hatte der Innenarchitekt den bäuerlichen
Charakter des Hauses bewahrt und seinen Modernisierungsdrang
an den sanitären Anlagen und der Elektrik ausgelebt.
Die Zimmer hatten immer noch die niedrigen Decken mit den
Balken und das dunkle Eichenparkett. In ihrem ländlichen
Charme waren sie gemütlich und komfortabel. Das Gasthaus
war das größte im Umkreis und bei den Gästen beliebt, aber
auch nicht billig.
Luise hatte damals zugestimmt. Natürlich. Sie war froh und
dankbar gewesen, dass ihr jemand gesagt hatte, was zu tun war.
Und jetzt hatte sie Sam. Sam brachte es fertig, hin und wieder
ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern. Sie hatte viele Jahre
nicht gelächelt. Aber jetzt ging es wieder, auch wenn sie sich
jedes Mal wie eine Verräterin fühlte.
Sie schirrte das Pferd ab, striegelte es und führte es in seine
Box in der Scheune, wo sein verdientes Abendbrot, bestehend
aus einer Kelle Hafer und einer großzügigen Handvoll Heu,
auf ihn wartete. Dann ging sie den Trampelpfad hinter dem
alten, weitgehend unbenutzten Schuppen entlang hinüber zur
Schenke, öffnete die Tür, die direkt in das Treppenhaus führte,
und versuchte, sich an der Küche vorbeizumogeln, in der Filippo,
der italienische Koch, ein hartes Regiment führte.
Wenn sie Pech hatte, war das Restaurant gut besucht, und
dann wurde Fritzi, die Bedienung, noch nervöser, als sie ohnehin
schon war, und Filippo würde ihr, Luise, ohne viel Federlesens
die weiße Schürze in die Hand drücken und sie zum Dienst
einteilen. Normalerweise machte ihr das nichts aus, denn in
ihrem Zimmer wartete niemand auf sie, und die Gäste waren
nett, meistens jedenfalls. Warum auch nicht, sie hatten ja Urlaub.
Aber heute hatte sie zwei anstrengende Touren mit drei
noch anstrengenderen Kleinkindern gehabt. Dabei hatte eine
Dreijährige das Pferd mit Steinen bewerfen wollen und hatte
versehentlich ihren Zwillingsbruder mitten auf die Stirn getrof-
fen. Das anschließende Geschrei hatte sie und die sechs anderen
zahlenden Gäste während der knapp einstündigen Fahrt pausenlos
begleitet.
Luise sehnte sich also nach Ruhe und huschte an der offenen
Küchentür vorbei. Als sie die Holztreppe hinaufeilte, hörte
sie Filippo in italienischer Manier zetern. Fritzi hatte wieder
irgendwas fallen lassen. Nichts wie weg. Eine Minute später
schloss sie ihre Zimmertür und seufzte erleichtert. Sie würde
jetzt duschen, Tee kochen und es sich mit einem Käsebrot vor
dem Fernseher bequem machen.
***
Helga Landmeier saß mit ihrem Mann am Frühstückstisch,
in der Hand einen Becher Kaffee, vor sich auf dem Tisch die
wöchentliche Ausgabe des Bauernblattes.
»Wir müssen Stroh zukaufen, mit dem, was wir haben, kommen
wir nicht übern Winter«, sagte sie und strich die Zeitung
glatt.
»Das werden wir wohl nicht, wenn die Osterlitze immer
meterhoch überstreut, damit sie die Pferdeäppel nicht sehen
muss«, murrte der und faltete die Zeitung zusammen, in der
seiner Meinung nach auch immer das Gleiche stand.
»Sag nicht immer Osterlitze. Wenn die das hört!«, schimpfte
die Bäuerin, und im selben Moment war von draußen Motorengeräusch
zu hören.
»Siehst du, das ist sie. Man könnte fast meinen, die spürt das,
wenn man über sie spricht.«
»Ach, die hat bloß nix zu tun und hängt den ganzen Tag hier
rum und putzt ihren dämlichen Gäulen die Nase, statt sich mal
nützlich zu machen.« Bauer Landmeier stand von der Küchenbank
auf und quälte sich hinter dem Tisch hervor. »Und wie die
sich so’n Protzerauto leisten kann, ist mir ein Rätsel.«
Helga schob die Spitzengardine ein paar Millimeter zur Seite
und lugte vorsichtig auf den Hof. Sie wollte auf keinen Fall, dass
ihre adlige Kundschaft glaubte, sie interessiere sich übermäßig
für sie. Dennoch beobachtete sie genau, wie Frau Baronin von
Freiwald-Osterlitz mit ihrer Tochter ihrem schwarzen Riesengefährt
entstieg.
»Wie die wohl in die Parkplätze reinkommt?«, murmelte sie.
Sie selbst hatte ja schon mit ihrem kleinen Peugeot Probleme,
in den Parkhäusern einzuparken.
»Na, die braucht immer zwei, aber bezahlen tut sie garantiert
nur einen. Kannste Gift drauf nehmen.« Caspar Landmeier
nahm den letzten Schluck aus seinem Kaffeebecher und stapfte
dann auf seinen kurzen Beinen hinaus, um den Zaun am Paddock
zu reparieren.
Helga stand ebenfalls auf. Ihr Rücken machte ihr in letzter
Zeit immer mehr zu schaffen, aber sie wagte nicht, darüber zu
sprechen. Caspar würde sich dann mit Freude sofort auf sein
Lieblingsthema stürzen. Seinen faulen Sohn. Dabei war Matthis
gar nicht faul, er war eben krank. Aber dafür hatte außer ihr
niemand Verständnis. Nicht ihre Töchter, die beide in Lüneburg
lebten, die eine verheiratet, die andere Single, und ihr Mann
schon gar nicht.
Natürlich, Matthis war ein bisschen naiv, hatte sich auf diese
junge Frau eingelassen, die ihn dann schändlich betrogen hatte.
Und jetzt war er vier Wochen in dieser Klinik in Bayern gewesen.
Auf sie hatte die Klinik ja eher wie ein Hotel gewirkt,
aber das gehörte wohl zur Therapie. Jedenfalls hatte Matthis
das gesagt. Immerhin sah er wieder viel besser aus, als er nach
Hause gekommen war.
Zu dumm, dass dieses blöde Pferd ihn dann treten musste,
jetzt humpelte er seit drei Wochen, und es wurde einfach nicht
besser. Er hatte aber auch wirklich Pech.
Helga schraubte den Deckel auf das Honigglas und stellte das
schmutzige Geschirr in den Spülautomaten. Sie wollte gerade in
den Keller gehen, um die Kartoffeln fürs Mittagessen zu holen,
als es klingelte. Nanu, dachte sie, wer konnte das sein? Vielleicht
die Post. Sie wartete einen Moment, vielleicht war Matthis ja
schon wach.
Aber es klingelte erneut, diesmal dringlicher. Helga schloss
die Tür zum Keller wieder und ging die Haustür öffnen. Es war
die Baronin.
Eine ungehaltene Baronin.
»Liebe Frau Landmeier, da steht ein Pferd im Kornfeld. Ein
gesatteltes Pferd ohne Reiter. Und es blutet.«
Helga schluckte. »Oh, ich werde meinem Mann Bescheid
sagen. Er kümmert sich drum.«
»Wenn Sie so freundlich wären.« Frau Baronin lächelte jetzt
und drückte ihr dann dreihundert Euro in die Hand, als wäre
es ein Trinkgeld. »Nehmen Sie das. Ich werde mal sehen, ob ich
das Pferd einfangen kann.«
»Äh, danke«, stotterte Helga und sah der hochgewachsenen
Frau verblüfft nach. Das war nicht mal die Hälfte der Miete, mit
der sie noch in der Kreide stand.
Helga steckte das Geld in die alte Kaffeekanne in der Anrichte
– kein Mensch benutzte heute noch eine Kaffeekanne aus
Porzellan – und verließ das Haus, um ihren Mann ins Haferfeld
zu schicken.
Caspar stand am Paddock und schwang einen großen Hammer,
um einen Zaunpfahl in die Erde zu treiben.
»Caspar, komm doch mal, da ist irgendwo ein Pferd ausgebüxt.
«
»Was ist mit Matthis?«, knurrte ihr Mann und platzierte
schwungvoll einen gezielten Hammerschlag auf das Pfahlende.
»Der kann doch nicht laufen«, entgegnete Helga vorwurfsvoll.
Caspar seufzte, warf den schweren Hammer in den Sand und
begab sich zum Haferfeld, wo das Pferd eifrig an den Getreidehalmen
zupfte. Die Baronin war schon da. Sie erwischte den
Zügel und strich dem Tier sachte über den Hals.
»Oje, was ist denn mit dir passiert, du armes Ding«, jammerte
sie. Mittlerweile war Caspar herangekommen und wunderte
sich.
»Nanu, das ist ja die Stute von der Magda, was macht die
denn hier?«
Und dann machte er eine merkwürdige Entdeckung. Im
Steigbügel hing ein festgeklemmter Stiefel.
Was hatte das zu bedeuten? Wo war der Reiter? Caspar sah
sich um. Das Pferd musste jemanden abgeworfen haben. Aber
wo? Es war niemand zu sehen.
»Du lieber Gott«, meinte die Baronin, die endlich aufhörte,
dem Pferd die Ohren zu kraulen, als sie den Stiefel im Steigbügel
zur Kenntnis nahm. »Ja, ist da etwa jemand vom Pferd gefallen?
Und wo ist der? Muss ja wohl ein Mann gewesen sein, oder?«
Sie wandte den Kopf Richtung Wald und schrie ohne jede Vorwarnung
»Haaaaallooo!«, was zur Folge hatte, dass die Stute
sich losriss und davongaloppierte.
Caspar blickte in stummer Verzweiflung zum Himmel.
»Was ist denn los?«, rief Helga, die ebenfalls angestapft kam.
Ja, komm du auch noch und trample den Hafer platt, dachte
Caspar. Doch er sagte nichts, drehte sich um und folgte der
Schneise, die das Pferd und die Baronin in das Haferfeld getreten
hatten. Helga hinterher. Das Pferd war nicht zu sehen, aber
Caspar hatte bemerkt, dass es lahmte. Es würde also hoffentlich
nicht weit laufen.
Als die Baronin die knapp dreihundert Meter bis zum Wald
zurückgelegt hatte, verschwand sie zwischen den Bäumen. Caspar
hoffte, dass sie die Stute nicht noch mal verscheuchte. Aber
merkwürdig war das Ganze schon. Wenn da jemand vom Pferd
gefallen war, dann musste er doch irgendwo sein. Hoffentlich
war nichts Schlimmes passiert.
Plötzlich gellte ein Schrei über das Feld und hallte in der
stillen Landschaft nach. Caspar wäre beinahe gestolpert, und
Helga stand stramm wie ein Soldat. Dann sah sie zu ihrem Mann
hinüber, der sich langsam wieder in Bewegung setzte. Alles war
still.
In diesem Moment brach ein Pferd aus dem Wald hervor
und galoppierte mitsamt Reiterin, die sich nur mit Mühe im
Sattel hielt und laut um Hilfe schrie, querfeldein auf die Dorfstraße
zu, wo ein geistesgegenwärtiger Tourist sich dem Pferd
in den Weg stellte, die Arme hochriss und das Tier dermaßen
verschreckte, dass es die Vorderbeine in die Luft warf, und die
Reiterin schreiend aus dem Sattel auf den weichen Sandboden
f iel.
Caspar und Helga hatten das Ganze bewegungslos beob-
achtet. Die Frau stand wieder auf, fuchtelte mit den Armen
und schrie und fluchte, was das Zeug hielt. Immerhin, sie schien
nicht verletzt zu sein. Caspar und Helga setzten sich wieder in
Bewegung. Noch bevor sie den Wald erreichten, kam ihnen
die Baronin kreischend entgegengetaumelt. Dabei hielt sie ihre
beiden Hände an die Ohren, als habe ihr gerade der Teufel die
Schrecklichkeiten des Fegefeuers eingeflüstert. Caspar keuchte
und hielt sich die Seite. Laufen war er nicht gewohnt.
Helga, die etwas besser zu Fuß war, rannte der Baronin entgegen,
die immer nur »Hilfe!« schrie. Die ergriff ihre Schultern
und schüttelte sie so heftig, dass Helgas Kopf wackelte. Helga
entwand sich der Umklammerung, was ein Glück war, denn im
nächsten Moment übergab sich Frau von Freiwald-Osterlitz
heftig auf den Weg, der das Feld vom Wald trennte. Die Stute
war mittlerweile stehen geblieben und tänzelte nervös hin und
her. Die Zügel hatten sich im Gestrüpp verfangen.
Caspar ging langsam auf das Pferd zu. »Ruhig«, murmelte
er und streckte die Hand aus. »Ganz ruhig.«
Die Stute wieherte leise und schüttelte die Mähne. Dann hatte
Caspar die Zügel gefasst, zog sie aus dem Brombeerstrauch und
tätschelte dem Tier den Hals. Und was er dann sah, wollte er
möglichst schnell wieder vergessen. Er kniff die Augen zusammen
und drehte den Kopf weg.
»Caspar, was ist los?«, rief Helga, die den Arm um die
schluchzende Baronin gelegt hatte.
»Was ist denn los?«, schrie auch Matthis, der nun ebenfalls
durch das Haferfeld auf sie zukam.