Donnerstag, 13. Juni
Sie schlug die Augen auf. Dunkelheit umgab sie. Sie richtete sich auf und versuchte, sich an die undurchdringliche Schwärze zu gewöhnen. Wo war sie? Es konnte nicht ihr Schlafzimmer sein. Sie schloss niemals völlig die Jalousien, damit noch ein Schimmer Licht von der Straßenlaterne vor ihrem Fenster in ihr Zimmer drang. Aber dies war nicht ihr Schlafzimmer und nicht ihr Bett. Dieses Bett war klein, nicht wie ihr französisches mit der weichen Matratze. Sie lauschte. Kein vertrautes Geräusch drang an ihre Ohren.
Es war still. Still und dunkel. Sie war unendlich müde und ihr war übel. Fast hätte sie sich wieder hingelegt, doch dann kam die Erinnerung. Sie hatte nach dem Film noch einen kurzen Spaziergang gemacht. Ihr Herz begann zu klopfen. Es musste ein Krankenhaus sein, aber Krankenhäuser waren nicht so dunkel, nicht mal bei Nacht, und dann diese Stille. Sie stand auf und versuchte irgendetwas zu ertasten. »Hallo!«, rief sie. »Ist da wer? Wo bin ich hier? Machen Sie doch Licht!« Ihre Hand fuhr über weichen Stoff, eine Decke. Sie tastete sich weiter bis zur Wand und dann an dieser entlang. Es musste doch irgendwo ein Fenster geben und eine Tür. Vielleicht bin ich ja plötzlich blind geworden, fuhr es ihr durch den Kopf. Aber war die Welt der Blinden nicht grau? Sie schluckte. Das würde sie doch merken! An den Augen, da täte doch irgendwas weh. Einfach so erblindete man doch nicht! Nein, nein, es war nur so verdammt dunkel in diesem Loch. »Hallo! Hört mich denn niemand?« Die Wand war kalt und feucht. Vielleicht war sie in einem Keller. Ihr Atem ging schneller, es roch modrig und sie begann zu würgen. Sie fühlte Holz. Eine Tür! Hastig suchte sie nach der Klinke, aber es gab keine. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Sie schrie und polterte dagegen. »Hilfe, ich will hier raus! Hilfe!«
Sie schlug und schrie so lange, bis sie schluchzend zu Boden sank. Nichts rührte sich. Ihr war kalt und sie schlotterte. Denk nach, versuchte sie sich zu beruhigen, es lässt sich bestimmt alles ganz einfach erklären! Denk nach! Es musste doch irgendwo eine Lampe geben, die musste sie finden. Sie stand auf und durchsuchte tastend den Raum. Sie stolperte über irgendwas, das scheppernd umfiel. Ein Eimer. Fast war sie dankbar für das Geräusch. Der Raum war klein und enthielt nichts außer der Liege und dem Eimer. Sie setzte sich auf die Liege. Was passierte hier? Sie kicherte hysterisch. Bestimmt wachst du gleich auf – hey, wach auf! Sie stand auf um die Tür wiederzufinden. »Hallo! Lasst mich endlich raus! Ich muss mal!« Wieder hämmerte sie gegen die Tür, aber ihre Hände schmerzten so, dass sie aufgeben musste. Ihre Blase drückte, es war unerträglich. Dann fiel ihr der Eimer ein. Nachdem sie sich erleichtert hatte, krümmte sie sich auf ihrer Liege zusammen. Ihr Mund war trocken und sie hatte entsetzlichen Durst. Was war das für ein Alptraum? Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon hier war, ob es Nacht war oder Tag, wie sie hierhergekommen war. *
Das Kind schrie schon eine ganze Weile. Charlotte Wiegand sah auf die Uhr, fast vier. Sie fluchte. Ein anstrengender Tag am Schreibtisch wartete auf sie, und dieses Kind raubte ihr den Schlaf. Was zum Teufel trieb seine Mutter, die war doch sonst so fürsorglich. Sie stand auf, ging zum Kühlschrank, nahm die Wasserflasche und trank. Dann ging sie zurück zu ihrer Matratze und kuschelte sich wieder unter die warme Decke. Sie war immer noch nicht dazu gekommen, sich ein Bett zu kaufen, obwohl sie schon vor über drei Monaten hierher gezogen war. Seit der Trennung von Martin, fehlte ihr für die häuslichen Dinge des Lebens die Lust. Fast drei Jahre waren sie zusammen gewesen. Ihre Mutter hatte schon Hoffnung geschöpft, dass ihre Älteste am Ende doch noch unter die Haube kam. Doch vor einem Vierteljahr hatte sie ihre Mutter enttäuschen müssen und sich von Martin getrennt.
Das Kind schrie immer noch. Vielleicht ist es krank, dachte Charlotte und seufzte. Früh am Abend hatte es auch schon geschrien. Sie legte sich auf die Seite und drückte das Kissen auf ihr Ohr. Noch zehn Minuten, dann geh ich rüber, dachte sie. Nach einer Weile wurde das Kind ruhiger und schwieg dann. »Na also«, murmelte sie, »geht doch.« Als Charlotte am nächsten Morgen das Haus verließ, schrie das Kind wieder. Merkwürdig, dachte sie noch. Sie hatte es eigentlich noch nie so schreien hören. Ob die Mutter krank war? Heut Abend frag ich mal nach, nahm sie sich vor und ließ die Wohnungstür ins Schloss fallen.
»Was, zum Teufel, soll das?« Hauptkommissarin Charlotte Wiegand von der Abteilung für Tötungsdelikte des Zentralen Kriminaldienstes, Hannover, stellte schlecht gelaunt ihren Pappbecher Kaffee auf den Tresen und hielt witternd die Nase in die Luft. »Wer hat hier geraucht?« »Keine Ahnung«, erwiderte der uniformierte Beamte hinter dem Schalter, »Bergheim war gerade hier und hat dich gesucht. Warum du dein Handy nie einschaltest, wenn du schon keinen Festnetzanschluss hast, wollte er wissen. Ein ‚Schneckenstecher‘“, so nannten ‚ernsthafte‘ Sportler die Unsitte, mit Ski-Stöcken spazieren zu gehen, „ hat am Birkensee bei Müllingen eine Leiche gefunden. Bergheim ist unterwegs dahin, konnte nicht mehr warten.«
»Kann ich mir denken«, sagte die Kommissarin, »der muss immer in der ersten Reihe sitzen.« Der Uniformierte guckte sie schräg an und sortierte ein paar Papiere. »Was ist dir denn über die Leber gelaufen?« »Ach gar nichts, hab nur schlecht geschlafen. Also, ich brauch jemanden der mich zum See fährt, mein Auto ist immer noch in der Werkstatt.« »Kein Wunder, bei der alten Kaschemme«, murmelte der Polizist, und ignorierte Charlottes missbilligenden Blick. »Mertens!«, rief er, »du wirst hier gebraucht!« Die Polizistin Wiebke Mertens war noch nicht lange im Dienst und hatte einen Mordsrespekt vor der schönen Hauptkommissarin Wiegand, dem Star der Kriminalfachinspektion 1. Charlotte verdrehte die Augen. »Na, wenigstens raucht die nicht.«
Der See, der eher ein Teich war, lag an einem kleinen Waldstück an der Bundesstraße vierhundertdreiundvierzig, etwa fünfzehn Kilometer östlich der City. Auf der einen Seite gab es einen Campingplatz und auf der anderen eine kleine Sandbucht. Um den See zu erreichen musste man von der Bundesstraße auf einem engen geteerten Weg die A 7 überqueren und erreichte gleich darauf einen Wendeplatz mit einer T-Kreuzung. Links ging es zum See, und rechts führte ein weg in die Felder. Rüdiger Bergheim stand neben einem Streifenbeamten und einem Kollegen von der Kriminaltechnik vor einer Leitplanke, hinter der sich hohe Birken und Buchen erhoben. Er trug seine obligatorische schwarze Lederjacke und Jeans. Ein guter Ermittler. Intelligent und – für einen so gutaussehenden Mann – sogar unaffektiert. Charlotte wusste selbst nicht, warum sie ihm die Zusammenarbeit so schwer machte. Vermutlich lag es daran, dass ihn jede Polizistin anhimmelte und sowas machte sie nun mal nervös. Die Leute sollten sich auf ihre Arbeit konzentrieren.
»Morgen«, sagte sie heiser und räusperte sich. Bergheim unterbrach sein Gespräch mit dem Kriminaltechniker und wandte sich um. »Morgen«, erwiderte er und musterte sie kurz. Seine Miene war unergründlich und Charlotte fragte sich, warum er so blass war. Bestimmt wieder irgendeine Frauengeschichte, dachte sie und nahm ohne ein weiteres Wort die Leitplanke in Angriff. . Die Leiche war über die Planke geworfen worden, etwa fünf Meter den steilen Abhang zum Feld hinuntergerollt und mit dem rechten Fuß am Ast eines Buchenstammes hängengeblieben. See und Campingplatz waren von hier aus nicht zu sehen. Der Platz war von dichtem Gehölz umgeben. Es gab keine Laternen, und der Lärm der Autobahn verschluckte jedes Geräusch. Kein schlechter Platz, um möglichst schnell eine Leiche loszuwerden. Charlotte kraxelte den Abhang hinunter und musste aufpassen, dass sie auf dem feuchten Gras nicht ausrutschte Die Tote trug ein hellgrünes T-Shirt und schwarze Jeans. An ihrem linken Fuß klemmte eine dieser hässlichen, aber bequemen Biosandalen. Die Arme waren ausgebreitet und – Charlotte schluckte, als sie sah, dass die Hände fehlten. Sie hielt sich an dem Buchenstamm fest und beugte sich über die Tote. Der Schock traf sie völlig unerwartet. Das Gesicht der Toten war nur noch eine breiige Masse. Sie wandte sich abrupt ab und hustete. Bergheim stand oben an der Leitplanke und blickte besorgt auf sie herab. Aber Charlotte hatte sich schon wieder gefangen. »Herr Gott noch mal!«, fluchte sie lauter als nötig. »Warum drehen sie sie nicht gleich durch den Fleischwolf?« Bergheim antwortete nicht. Was sollte er sagen?
»Ist Wedel schon fertig?«, fragte sie, nachdem sie sich wieder gefangen hatte. Dr. Friedhelm Wedel war der Pathologe, eine Riesenportion Mann, mit einer Größe von fast einem Meter neunzig und einem gewaltigen Bauchumfang. Er trug nur Schwarz, was auf skurrile Weise mit seinem zynischen Humor korrespondierte.
»Er ist drüben beim Wagen«, sagte Bergheim, »hat schon nach dir gefragt.« Charlotte überließ das Feld ihrem Kollegen und der Kriminaltechnik und kraxelte den Abhang wieder hinauf, um mit dem Pathologen zu sprechen. »Hallo, junge Frau«, begrüßte sie Wedel, der an der offenen Wagentür stand und seine Hände mit einem Tuch bearbeitete, »geht's Ihnen nicht gut? Sie sehen so blass aus.«
»Ach, hören Sie doch auf. Das ist nicht witzig.«
»Lach ich etwa?« Charlotte konnte seinem Humor nichts abgewinnen und kam zur Sache. »Was können Sie schon sagen?« »Noch nicht viel, Sie kennen mich doch, ich brauch immer ein bisschen länger als Sie's gerne hätten«, sagte er und warf das Tuch auf den Beifahrersitz. »Sie ist seit etwa fünfzehn bis zwanzig Stunden tot. Zur Todesursache kann ich noch nicht viel sagen. Auf jeden Fall hat sie mehrere Schläge ins Gesicht bekommen, allerdings post mortem. Die Hände sind sauber abgetrennt, ‚abgeschlagen‘ trifft es besser. Möglicherweise mit einer Axt oder ähnlichem Werkzeug. Ebenfalls nach ihrem Tod.« Er klemmte sich hinter das Steuer seines schwarzen Golfs und der Wagen bekam Schlagseite. »Außerdem hat sie einen Hautausschlag an den Oberarmen und am Hals. Dazu kann ich erst mehr sagen, wenn ich sie auf dem Tisch hab.« »Das heißt, der Todeszeitpunkt war gestern Nachmittag?« »In etwa. Aber Sie wissen ja, diese Angaben sind wie immer ohne Gewähr. Spätestens morgen Nachmittag haben Sie den Bericht.«
Noch bevor sie protestieren konnte, klappte er die Tür zu und warf den Motor an. Charlotte schloss die Augen und seufzte. Ihr war übel. Sie war seit ihrem neunzehnten Lebensjahr bei der Polizei, aber es fiel ihr immer noch schwer, den Anblick verstümmelter Menschen zu ertragen. Sie sehnte sich nach einer Zigarette und einem Kaffee. Das Rauchen hatte sie vor zwei Jahren aufgegeben – nicht nur Martin zuliebe. Martin, diesem Mistkerl. Charlotte ging langsam zu Bergheim, der – die Hände in den Hosentaschen vergraben – die Arbeit der Spurensicherung beobachtete. Sie stellte sich neben ihn. Keiner sagte etwas, es war, als wären sie es der Toten schuldig, zumindest einen Moment innezuhalten, bevor sie mit den nüchternen Ermittlungen begannen.