EINS
Der Maschsee lag still inmitten des Trubels. Einige
wenige Segelboote
trotzten der Flaute und schipperten träge über die
glatte
Wasserfläche. Die Sonne schien immer noch heiß aus
einem
mattblauen Himmel auf die Köpfe der feiernden Menge
hinab.
Charlotte Wiegand und das Team der
Kriminalfachinspektion
1 der Kripo Hannover hatten sich auf Betreiben der
Chefin
Gesine Meyer-Bast an der Temple Bar am Maschsee
eingefunden.
Sie hatten einen Tisch direkt am Wasser ergattert,
vielmehr
hatte Martin Hohstedt ihn ergattert und sich dafür
mindestens
eine halbe Stunde lang selbst auf die Schulter
geklopft.
Charlotte nahm einen Schluck von ihrem Kilkenny,
schloss
für einen Moment die Augen und hielt ihr Gesicht in die
Sonne.
Die Stimmen der zahlreichen Besucher an der Temple Bar
verschmolzen
zu einem monotonen Brummen. Auf der Bühne
schlug eine irische Band die ersten Klänge von Amy
Macdonalds
»This Is The Life« an.
»Oh Mann, nicht schon wieder, ich kann’s nicht mehr
hören«,
beschwerte sich Thorsten Bremer, der neben Charlotte saß
und
an seiner Portion Fish und Chips arbeitete. Charlotte
klaute sich
noch eine von seinen Fritten.
»Ich find’s geil.«
Bremer verfolgte missmutig, wie die Fritte in
Charlottes
Mund verschwand. »Jetzt ist aber genug, hol dir doch
selbst
welche«, knurrte er.
»Viel zu voll, da verhungere ich ja, während ich
anstehe«,
antwortete Charlotte kauend.
Bremer drehte sich zur Seite und hielt seine Hand
schützend
über seine Mahlzeit. Genau wie ein kleiner Streber, der
seine
Mitschüler nicht abschreiben lassen will.
Auch gut, dachte Charlotte und sah auf die Uhr. Sie
war
müde, hatte den Tag bei ihren Eltern in Bielefeld
verbracht.
Ihr Vater hatte sich nach seinem Oberschenkelbruch zu
einem
wahren Tyrannen entwickelt. Charlotte hatte Mühe gehabt,
ihre
Mutter daran zu hindern, ihre Koffer zu packen und
irgendwohin
zu verschwinden. Was sollte dann aus Vater Wiegand
werden? Charlotte konnte sich nicht um ihn kümmern.
Als
Erste Hauptkommissarin im Zentralen Kriminaldienst war
sie
mehr als ausgelastet.
Bis vor zwei Wochen war noch alles in Ordnung
gewesen,
mehr oder weniger. Aber dann war ihr Vater aus der
Klinik
zurückgekehrt und verfluchte seither alle Welt dafür,
dass er nur
noch ein Krüppel war. Das war natürlich völlig
übertrieben, er
konnte zwar nur an Krücken gehen, aber daran konnte
man
arbeiten. Das hatte der Arzt gesagt. Leider gehörte
Werner Wiegand
nicht zu den geduldigsten Menschen. Wie auch immer,
ihr Vater würde in der nächsten Woche seine Reha in
Hannover
beginnen. Ihre Mutter war froh, ihren Mann eine Weile
loszuwerden.
Und Charlotte graute davor, sich und ihren Vater in
derselben Stadt zu wissen.
Sie warf Rüdiger Bergheim, ihrem Partner und
Kollegen,
einen Blick zu. Er beobachtete mit Hohstedt die
Segelboote,
die still auf dem See lagen.
»Packt mal die Paddel aus!«, rief Hohstedt einer
Bootsbesatzung
zu, deren Jolle langsam am Ufer der Temple Bar
vorbeidümpelte.
Bergheim fand das lustig, doch Charlotte ärgerte sich.
Rüdiger
verbrachte seit Längerem mehr Zeit mit dem blöden
Hohstedt auf ihrem noch blöderen Boot als mit ihr,
seiner Lebensgefährtin.
Immer wenn es sich einrichten ließ, machte er
sich auf und schipperte mit Hohstedt auf dem Maschsee
oder
dem Steinhuder Meer herum. Im Frühjahr hatten sie sogar
einen
Segeltörn auf der Ostsee gemacht. Was fanden Männer
bloß
daran, auf einem engen Boot zu sitzen und darauf zu
warten,
dass einen der Wind irgendwo hintrieb? Sonst passierte
doch
beim Segeln nichts.
Okay, ab und zu wurden die Segler aktiv, immer dann,
wenn
eine Wende anstand. Dann gab es wirklich etwas zu tun.
Einer
musste das Ruder herumreißen und ein anderer das
Focksegel
von der einen Seite auf die andere legen. Charlotte
argwöhnte,
dass Segler so oft wendeten, damit sie überhaupt etwas
zu tun
hatten. Immer nur auf das Wasser zu starren und sich zu
fragen,
woher der Wind wehte, war auf die Dauer ja auch nicht
abendfüllend.
»Hey«, ihre Kollegin Maren Vogt, die bisher tapfer die
Unterhaltung
mit der Chefin Gesine Meyer-Bast bestritten hatte,
legte
die Hand auf Charlottes Schulter. »Willst du noch was
trinken?«
»Äh, nein«, antwortete Charlotte. »Ich geh gleich,
meine
Mutter wollte noch anrufen.« Das war zwar gelogen, aber
Charlotte
hatte keine Lust, auch noch ihren Samstagabend mit
ihren
Kollegen und ihrer Chefin zu verbringen. Die durfte sie
ja während
der Woche schon genug genießen. Sie fixierte
Bergheim,
der sich blendend mit Hohstedt zu unterhalten schien. Er
sah sie
an und prostete ihr mit seinem Bierglas zu. Na, der
fühlt sich ja
hier offensichtlich pudelwohl, dachte Charlotte und stand
auf.
»Ich geh dann mal. Hab leider noch
Verpflichtungen.«
Sie quetschte sich an einem übergewichtigen
Mittfünfziger
und seiner übergewichtigen Begleitung vorbei aus der
Bank
heraus und winkte den anderen zum Abschied. Die schienen
sie
aber schon vergessen zu haben, nur Bergheim sah ihr
verblüfft
nach. Na gut, dachte Charlotte, ihr kommt ja wohl alle
ohne
mich klar. Sie wandte sich ab und bahnte sich einen Weg
durch
die gut gelaunte Menge. Ein Spaziergang am See war genau
das,
was sie jetzt brauchte.
Sie ging Richtung Löwenbastion. Oder besser, sie
manövrierte
sich durch die Massen hindurch. Am Wochenende war
das Maschseefest natürlich besonders gut besucht.
Die Sonne senkte sich langsam über den Wipfeln der
Bäume
am gegenüberliegenden Westufer und warf ein breites
rotes
Band auf den See. Auch vom Westufer schallte Musik
herüber,
wohl von der Maschseequelle. Nach wenigen hundert
Metern
erreichte sie die Löwenbastion, auf deren großer Bühne
eine
sechsköpf ige Band rockte. »Heaven’s in The Back Seat
of My
Cadillac«.
Das war vielversprechend, fand Charlotte. Sie beschloss,
der
Band noch eine Weile zuzuhören, und ging die wenigen
Stufen
hinauf, die zur Tanzfläche führten, um einen genaueren
Blick
auf die Bühne zu werfen. Die Löwenbastion, die ihren
Namen
zwei bronzenen Löwenskulpturen verdankte, war ein
idyllischer
Aussichtspunkt am See und während des
Maschseefestes
ein beliebter Treffpunkt. Unter den ausladenden Zweigen
der
mächtigen Kastanien wurden dann Tische und Bänke
aufgestellt,
von denen aus man einen herrlichen Blick auf den See
genießen
konnte. Vorausgesetzt, man hatte einen der begehrten
Plätze
nahe am Ufer ergattert.
Charlotte wühlte sich durch die Menge. Wie ein
schützendes
Dach spannten die Kastanien unter einem wolkenlosen
violettblauen
Himmel ihre Zweige aus, Lichterketten schufen eine
fröhliche Atmosphäre. Die Bretter unter Charlottes
Füßen bebten,
und ihr Brustkorb vibrierte vom Wummern der Bässe.
Sie
schob tanzende Körper beiseite, zwängte sich durch die
Menschenmassen
hindurch und versuchte, etwas vom Geschehen
auf der Bühne zu erhaschen, aber das war Utopie. Nein,
der
Weg über die Löwenbastion war keine gute Idee gewesen.
Hier
war einfach kein Durchkommen. Sie wurde angerempelt,
stieß
gegen den Nächststehenden, der daraufhin den Inhalt
seines
Bierglases auf dem T‑Shirt seines Nachbarn verteilte.
Der folgende
Wortwechsel war kein Beispiel für ein höfliches
Gespräch.
»Kacke, Mann, bist du bescheuert?«, rief der
Bekleckerte.
»Nee, das war die Trulla hinter mir«, antwortete der
Beschimpfte
und warf Charlotte einen bösen Blick zu.
»’tschuldigung, aber das war die Dumpfbacke auf der
Tanzfläche«,
sagte Charlotte und wies mit dem Daumen auf den
männlichen Teil eines angetrunkenen Pärchens, das sich
ebenso
unsicher wie ausladend inmitten der Menge an einem
Discofox
zu den Klängen von Queens »Radio Gaga« versuchte.
Charlotte
wollte sich schon abwenden, als der Kleckerer sie
erneut
ansprach.
»Wir kennen uns doch.«
Sie sah etwas genauer hin und schluckte. Auch das
noch.
Dr. Flentek. Sie sprach mit dem Arzt der Rehaklinik, die
demnächst
das Vergnügen haben würde, ihren Vater für drei
Wochen
zu beherbergen.
Ȁh, ja, ich war vor ein paar Tagen mit meinem Vater in
Ihrer
Sprechstunde.«
Der Mann nickte. »Jaaa, ich erinnere mich.«
»Kann ich mir vorstellen«, sagte Charlotte und wandte
sich
an den Bekleckerten, dessen Begleiterin ihn liebevoll
trocken
tupfte. »Tut mir leid.« Sie hob entschuldigend die Hand
und
wandte sich ab.
»Sie schulden mir ein Bier«, hörte sie Dr. Flentek
sagen.
Charlotte wandte sich um. »Wenden Sie sich an die
Dumpfbacke.
« Sie deutete mit dem Kinn auf das Pärchen, das von
der
Diskussion offensichtlich nichts mitbekommen hatte und
ohne
Rücksicht auf den Protest der Umstehenden weiter
herumrempelte.
Dr. Flentek grinste. »Die Dumpfbacke ist aber nicht so
hübsch
wie Sie.«
Hui, was war das denn? Der Mann flirtete mit ihr. Das
war
ihr schon lange nicht mehr passiert.
»Darf ich Ihr Schweigen als Einladung
interpretieren?«
»Äh.« Charlotte zuckte mit den Schultern. »Okay.«
Meine
Güte, das konnte ich auch schon mal besser, dachte sie
und
starrte in das lachende, attraktive Gesicht des
Mannes.
»Dann los«, sagte Dr. Flentek, und die beiden kämpften
sich
zur Theke vor, wo Charlotte zwei Bier bestellte. Was
sprach dagegen,
mal mit einem gut aussehenden Arzt ein Bier zu
trinken,
überlegte sie. Rüdiger würde nichts dagegen haben,
außerdem
war der ja mit seinem Busenfreund Hohstedt
glücklich.
Wenig später zwängten sie sich, jeder ein Glas Härke
Bräu in
der Hand, an einen der Stehtische und prosteten sich
zu.
»Ich heiße Burkhard.«
»Charlotte.«
Sie tranken, und er leckte sich über die Lippen. »Ihr
Vater
ist … na, sagen wir ein Charakterkopf.«
»Wenn Sie meinen«, murmelte Charlotte und stellte ihr
Bierglas
hin.
Er betrachtete sie lächelnd. »Sie sind bei der
Kripo?«
»Stimmt.«
»Das ist ja spannend.« Dr. Flentek sah sich um. »Und?
Gerade
auf Mörderjagd?« Er blickte auf ihr Bier. »Wohl nicht,
wenn Sie
Alkohol trinken.«
»Genau«, Charlotte hatte nicht die geringste Lust,
über ihre
Arbeit zu sprechen.
»Sagen Sie, ist das wirklich so wie im Fernsehen? Ich
sehe ja
selten Krimis, aber den ›Tatort‹ kenn ich.«
»Und bei Ihnen? Ist das auch so wie im Fernsehen? Ich
kenne
nur ›Emergency Room‹ …«
»Dachte ich mir«, er hob grinsend sein Glas, »wegen
George
Clooney, was?«
»Natürlich.« Charlotte musterte ihn, und was sie sah,
gefiel
ihr ausnehmend gut. Er war nicht mehr ganz jung, sie
schätzte
ihn auf Mitte vierzig. Bestimmt war er verheiratet, so
wie er
aussah. Oder zumindest in einer festen Beziehung. Genau
wie
sie. Auch wenn sie sich manchmal wie ein Single
fühlte.
Er berührte ihre Hand. »Sie sind nicht verheiratet,
jedenfalls
tragen Sie keinen Ring.«
Der geht ja ganz schön ran, dachte Charlotte. Was tat
sie hier
eigentlich? Wo sollte das hinführen? Sie sollte sich
verabschieden
und heimgehen, anstatt hier mit dem Feuer zu spielen.
Aber die
Neugier siegte.
»Und Sie?«
»Geschieden.«
»Aha.« Und jetzt?, fragte sie sich. Der Mann war gut
aussehend,
geschieden und wollte sie abschleppen. Das war zwar
schmeichelhaft, aber sie war nicht interessiert. Oder?
Die Band
spielte »I Was Made For Loving You, Baby«. Dr. Flentek
hielt
immer noch ihre Hand und sah sie erwartungsvoll an. Das
wurde
ihr jetzt aber langsam unheimlich.
Sie entzog ihm ihre Hand und trank ihr Bier aus. »Ich
muss
jetzt gehen.«
»Wirklich?«
Sie nickte. »Wir sehen uns im Henriettenstift.«
»Immer wieder gern«, sagte er strahlend.
Charlotte machte sich aus dem Staub.
Es war kurz nach sieben Uhr, als sie am nächsten Morgen
von
Bergheims Schnarchen geweckt wurde. Sie war erst am
frühen
Morgen eingeschlafen, hatte auf Bergheim gewartet, aber
sie
hatte ihn nicht heimkommen hören. Er musste noch lange
unterwegs
gewesen sein, konnte sich offensichtlich sehr gut
ohne
sie amüsieren.
Die Sonne war schon längst aufgegangen und warf ihr
weißes
Licht durch die Ritzen der Jalousien. Das Wetter in den
letzten
Tagen hatte sich mit beständiger Trockenheit und
Temperaturen
über fünfundzwanzig Grad an die günstigen
Vorhersagen
gehalten. Vielleicht war es das milde Klima, das ihnen in
der
KF I 1 die wenigen ruhigen Tage der letzten Woche
beschert
hatte. Und dafür war Charlotte mehr als dankbar, denn
ihre
Mutter hatte unmissverständlich erklärt, ihren Vater zu
erwürgen,
wenn Charlotte ihn nicht zur Vernunft bringen
würde.
Und das war nicht die einfachste Aufgabe. Andrea,
Charlottes
Schwester, hatte sich für die nächsten drei Wochen nach
Dänemark
verabschiedet und damit einmal mehr ein Beispiel für
ihr
perfektes Timing geliefert. Aber vielleicht hatte sie
auch einfach
nur Glück.
Charlotte warf die Bettdecke zurück, und schlüpfte in
ihre
Flipflops. Sie hatte seit ihrer Jugend keine mehr
getragen, bis
sie in ihrem letzten Urlaub in Italien festgestellt
hatte, wie gut
man in diesen Dingern laufen konnte. Sie ging über die
knarzenden
Dielen ins Bad, duschte und zog ihre Schlabberhosen
und ein T‑Shirt an. Dann machte sie Kaffee und setzte
sich auf
den kleinen Balkon, auf dem gerade ein Bistrotisch und
zwei
Korbstühle Platz hatten.
Es war noch recht frisch, und die meisten der
Mitbewohner,
deren Balkone in den Innenhof gingen, lagen wohl noch
in
ihren warmen Betten. Jedenfalls war sie allein. Sie nahm
einen
Schluck Kaffee und widmete sich der Hannoverschen
Allgemeinen
Zeitung vom Samstag. Sie hatte noch keine Zeit
gehabt,
sie zu lesen. Kaum zwei Minuten später klingelte das
Telefon.
Festnetz. Charlotte warf die Zeitung auf den Tisch,
sprang auf
und stapfte wütend ins Wohnzimmer zur
Basisstation.
Leer. Wo war das verdammte Telefon?
»Charlotte, Telefon«, kam es dumpf aus den Kissen
vom
Schlafzimmer her.
»Ach nee«, brummte Charlotte und warf die Kissen vom
Sofa.
Nichts. Das Telefon verstummte, der Anrufbeantworter
sprang
an. Ihre Mutter antwortete.
»Charlotte, wir machen uns auf den Weg nach
Hannover.
Vater fühlt sich nicht wohl.«
»Wie? Jetzt?«, entfuhr es Charlotte, obwohl sie immer
noch
nach dem Hörer suchte. Unter einer halb vollen Tüte
Chips
fand sie ihn endlich.
»Mama!«, rief sie in die Leitung, aber ihre Mutter
hatte schon
aufgelegt. Hastig suchte sie im Menü nach der
Rückruftaste,
vertippte sich aber und musste von vorn anfangen. Als sie
endlich
eine Verbindung zum Anschluss ihrer Eltern hatte,
meldete
sich niemand mehr. Klar, ihre Mutter hatte sich
schnellstmöglich
aus dem Staub gemacht. Charlotte hatte keine Chance
zum
Widerspruch.
»Was ist eigentlich los?« Bergheim stand blinzelnd im
Türrahmen
und raufte sich die Haare. »Kann man nicht ein Mal
am
Sonntag ausschlafen?«
Charlotte sah ihn missmutig an, überlegte, ob sie ihm
noch
eine Gnadenfrist gewähren sollte, entschied sich aber
dagegen.
»Meine Eltern sind im Anmarsch.«
Bergheim riss die Augen auf. »Wie? Im Anmarsch?
Jetzt?«
»So ungefähr. Zwei Stunden hast du noch. Kannst dich
in
Ruhe anziehen und frühstücken.«
Bergheim blickte zu Boden und kratzte sich am Kopf.
»Eigentlich
müsste ich noch mal in den ZK.«
Na klar. »Ich dachte, du wolltest ein Mal ausschlafen«,
äffte
sie ihn nach.
»Ja, aber wenn ich schon mal wach bin …« Er drehte
sich um
und ging ins Bad. Seine karierten Boxershorts hingen ihm
in
den Kniekehlen.
Ihre Mutter musste mit Bleifuß von Bielefeld nach
Hannover
gefahren sein, denn es dauerte nur etwa eineinhalb
Stunden, bis
es klingelte. Das hatte bisher nicht mal Charlotte
geschafft, nicht
mal, wenn sie es eilig hatte. Sie drückte auf den
Türöffner und
fragte sich, wie ihre Mutter in so kurzer Zeit einen
Parkplatz
hier in der Oststadt gefunden hatte. Wahrscheinlich
parkte sie in
zweiter Reihe. Die Tür unten im Treppenhaus wurde
geöffnet,
und Charlotte hörte ein Rumoren und dann eine
männliche
Stimme.
»Himmel Herrgott, nun halt doch die Tür auf, oder
willst du,
dass sie mich zerquetscht? Den blöden Kof fer kannst du
auch
hinterher noch raufbringen.«
Offensichtlich kämpfte ihre Mutter an drei Fronten: mit
der
Fahrstuhltür, ihrem Mann und einem Koffer. Letzteres
beunruhigte
Charlotte. Was wollten die beiden mit dem Koffer?
Ihre
Mutter hatte hoffentlich nicht vor, ihren Vater hier
unterzubringen,
bis man im Henriettenstift bereit für ihn war.
Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung, und Charlotte
wartete
mit einem Stein im Magen an der Wohnungstür. Der
Fahrstuhl
stoppte, die Tür öffnete sich, und das Erste, was
Charlotte sah,
war das Ende einer Krücke, die suchend aus der Tür fuhr
und
wieder verschwand. Dann kam ihr Vater zum
Vorschein.
»Charlotte, steh da nicht so rum, hilf deiner Mutter mit
dem
Koffer.«
»Hallo, Papa, schön, dich zu sehen«, log Charlotte,
nahm
ihren Wohnungsschlüssel von der Kommode und ging ihren
Eltern
entgegen. Ihr Vater sah noch genauso aus wie gestern, als
sie
die beiden in Bielefeld zurückgelassen hatte. Die
Krücken waren
das Einzige, was auf seine angeschlagene Gesundheit
hinwies.
Sein Pony fiel ihm über die wachen grauen Augen. Auf
den
vollen Wangen sprießten graue Bartstoppeln, die
Mundwinkel
hingen herab. Er hatte sich seit gestern nicht
verändert.
Über das Aussehen ihrer Mutter erschrak sie. Die letzte
Nacht
musste besonders schlimm gewesen sein. Unter einem
wirren
Haarschopf blitzten sie zwei Augen aus einem grauen
Gesicht
wütend an.
»Der bringt mich um«, flüsterte sie mit
zusammengepressten
Lippen.
Charlotte war versucht, ihr zu glauben. Wenn ihr Vater
so
weitermachte, würde er nicht mehr lange brauchen, um
seine
Frau loszuwerden.
»Kommt erst mal rein.«
Sie drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und
nahm ihr den Koffer ab, während ihr Vater mit seinen
Krücken
kämpfte und wüste Flüche ausstieß. Charlotte sah ihre
Mutter
an.
»Morgen«, raunte die, »morgen bin ich ihn los!« Ein
Lächeln
flog über ihr Gesicht.
»Ich dachte, erst am Mittwoch.«
»Nein, ich habe angerufen und gedroht, mich
umzubringen,
wenn sie ihn nicht morgen schon nehmen. Hat
geklappt.«
»Na bestens«, raunte Charlotte erleichtert. Bis morgen
würde
sie noch durchhalten.
»Wo kann man sich denn hier mal hinsetzen?«, meckerte
ihr
Vater und stampfte mit der Krücke auf den
Fußboden.
»Im Wohnzimmer, du kennst dich doch aus.«
»Und wie komm ich dahin? Die Tür ist zu.«
Charlotte verdrehte die Augen, ging voraus und öffnete
ihrem
Vater die Tür. Der stapfte schwerfällig hinter ihr her
und
ließ sich dann erschöpft aufs Sofa fallen.
»Wo ist Rüdiger?«, fragte er und sah sich um.
»Musste noch mal ins Büro«, log Charlotte
wieder.
»Natürlich, hat sich aus dem Staub gemacht. Wer will
schon
was mit einem Krüppel zu tun haben, wenn man selbst jung
und
gesund ist.«
»Er kann nichts dafür, dass er jung und gesund ist«,
wies Charlotte
ihren Vater zurecht. »Na ja, jedenfalls jünger und
gesünder
als du.« Sie zwinkerte ihrer Mutter zu, die den Kopf
schüttelte.
»Sag doch so was nicht«, raunte sie, »das macht ihn
nur wild.«
»Kann man hier mal was zu trinken haben, oder ist das zu
viel
verlangt?«
Charlotte warf ihrem Vater einen finsteren Blick zu und
ging
in die Küche, um ein Glas Apfelschorle zu holen. Bis vor
Kurzem
mochte ihr Vater Apfelschorle, aber in seinem
derzeitigen
Zustand konnte sie ihm wahrscheinlich anbieten, was sie
wollte.
Er würde sie auf jeden Fall zur Schnecke machen. Sie
streichelte
ihrer Mutter, die sich erschöpft an den Küchentisch
setzte, über
die Wange.
»Du hast es ja bald geschaf ft«, sagte sie
liebevoll.
»Du kannst mir glauben«, stöhnte die. »Es gibt
Zeiten, da
fängt man an zu verstehen, warum es Frauen gibt, die
ihre Männer
ins Jenseits befördern. Sie haben bestimmt immer
einen
guten Grund.«
»Mörder haben immer einen guten Grund«, sagte
Charlotte.
»Zumindest glauben sie das.«