Leseprobe


Wenn der Mähdrescher kommt




eins

 

Abendstille lag über dem kleinen Ort Birkendorf, der eigentlich
 

nur aus einer Handvoll von Bauernhäusern bestand. Die Menschen


hier lebten von der Viehzucht und dem, was die Äcker


hergaben, arbeiteten, aßen und tranken – manchmal etwas zu


viel – und beteten. Die Tage vergingen einer wie der andere, man


hielt sich an die Regeln der katholischen Kirche und im Wesentlichen


wohl auch an die des Gesetzes.


So zumindest hatte es den Anschein.



Niemand in Birkendorf hatte sich jemals etwas zuschulden


kommen lassen, wenn man von den Prügeleien absah, die sich


hin und wieder auf Schützenfesten oder Hochzeiten zutrugen.


Auch das eine oder andere Huhn hatte wohl schon bei Nacht


und Nebel den Besitzer gewechselt. Doch die Geschehnisse im


Sommer dieses Jahres irgendwann in den Siebzigern sollten das


Vertrauen der Birkendorfer in ihre eigene Wohlanständigkeit


zutiefst erschüttern.



Dem lauen Abend folgte eine ruhige Nacht. Die Vögel kündigten


wie immer im Morgengrauen den Tag an. Die aufgehende


Sonne und die feuchten Schwaden, die über den Wiesen und Feldern


aufstiegen, tauchten den frühen Morgen in ein kühles Licht.


Die Blätter der riesigen Kastanie, die die Großenjohannsche Hofeinfahrt


schmückte, hatten sich schon weit hervorgewagt und


gaben sich alle Mühe, den betagten VW-Käfer, der unter ihnen


parkte, vor dem in den letzten Tagen üppig niedergegangenen


Mairegen zu schützen.



Es war kurz nach sieben Uhr, als Marie Großenjohann gähnend


das leise quietschende Gartentor hinter sich schloss und auf ihren


Käfer zusteuerte. Sie hatte sich heute in aller Herrgottsfrühe aus


dem Bett gequält, um eine Vorlesung zu besuchen, die sage und


schreibe um acht Uhr begann. Es war wie so oft um diese Jahreszeit


ein nebliger, kühler Morgen, aber am Himmel arbeitete sich


ein zartes Blau hervor. Marie fröstelte leicht. Hieß das jetzt, dass




schönes Wetter im Anzug war? Oma Minna würde es wissen.


»Wenn der Nebel hochsteigt, in den Himmel, gibt’s Regen«,


pflegte sie zu sagen, »und wenn er nach unten in die Erde geht,


dann scheint die Sonne.« Bloß, dass Marie immer Probleme hatte,


den Unterschied zu erkennen. Für sie war Nebel überall. Wie


sollte man da wissen, ob er hochstieg oder runterging?



Sie hatte gerade die Hofeinfahrt überquert, als plötzlich jemand


schrie. Marie blieb stehen und lauschte. Es war ein kurzer,


hoher Ton gewesen. Ein Schreckensschrei. Aber jetzt war wieder


alles still. Nur in der Kastanie zeterte unermüdlich eine Drossel.


Wahrscheinlich war Bolle, der Kater, wieder auf Streifzug. Marie


zuckte mit den Schultern und steckte den Schlüssel ins Schloss.


Aber sie kam nicht mehr dazu, ihn auch umzudrehen, denn jetzt


wehte der Wind vom Nachbarhof lautes Jammern herüber und


eine männliche Stimme, die irgendetwas dazwischenrief.



Oma Minna kam mit einem Reiserbesen aus der Deelentür.


Sie hatte es wohl auch gehört – »die hört die Fische quatschen«,


pflegte Maries Vater zu sagen, der, gefolgt von seiner Frau Hannelore,


aus dem Kuhstall trat.



»Jessas«, sagte Oma Minna, »was ist denn bei Heckerhoffs


los?«



»Hinnerk, geh doch mal hin«, schlug Maries Mutter vor.



Der schürzte die Lippen, kramte seine kalte Pfeife aus der


Hosentasche und steckte sie sich in den Mund.



»Was soll ich denn da?«, quetschte er hervor.



»Ja, Himmel noch mal«, Hannelore Großenjohann schlug


die Hände über dem Kopf zusammen, »vielleicht brauchen die


ja Hilfe!«



Hinnerk schien noch nicht willens, die Neugier seiner Frau


zu befriedigen, doch dann überzeugte ihn lautes Weinen aus


Richtung des Heckerhoffschen Hofes von der Notwendigkeit,


nachbarliche Hilfe anzubieten. Er setzte sich langsam in Trab.


Oma Minna drückte ihrer Enkelin einen knochigen Finger in


den Rücken.



»Willst du nicht mitgehen, Löit?«



Marie verzog den Mund. Sie wusste natürlich genau, warum


sie mitgehen sollte. Ihr Vater würde nämlich den Teufel tun,



die beiden Frauen später ausführlich über die Geschehnisse


auf dem Nachbarhof aufzuklären. Er würde sich einen Spaß


daraus machen, seine Schwiegermutter zappeln zu lassen. Und


ihre Mutter würde bestimmt nicht mitgehen und sich nachsagen


lassen, sie sei neugierig. Marie hatte da weniger Skrupel.


Ihr war es piepegal, was die Leute dachten, und die Vorlesung


würde sie sowieso verpassen. Also folgte sie ihrem Vater die


knapp zweihundert Meter über die Heidekampstraße bis zum


Anwesen der Heckerhoffs.



Dort bot sich ihnen ein seltsames Bild. Die Familie, bestehend


aus August, dem Bauern, seiner Frau Franziska – der Quelle des


Weinens – und der Tochter Adelheid, einer Frau in den Dreißigern,


war um den Misthaufen herum versammelt. Adelheid hatte


den Arm um ihre Mutter gelegt und redete beruhigend auf sie ein.


August ging irgendwie ziellos vor dem Misthaufen auf und ab.



»Äh, ist irgendwas passiert?«, fragte Hinnerk unschlüssig.



August bemerkte die beiden Ankömmlinge erst jetzt, unterbrach


seinen Gang, wusste zunächst nichts zu sagen und deutete


dann auf eine Stelle hinter einer etwa hüfthohen Mauer, die den


Misthaufen vom Hof abgrenzte. Hinnerk lugte zögerlich hinüber


und prallte zurück. Marie ebenfalls. Da, eingezwängt zwischen


Misthaufen und Mauer, in einer braunroten Pfütze aus Blut und


Gülle, lag der alte Bauer Friedrich Heckerhoff, Augusts Vater.


Er war vollends bekleidet mit einem blau-grün karierten Flanellhemd,


einer schwarzen Manchesterhose und dunkelgrünen


Gummistiefeln. Die leeren Augen starrten in den Himmel, der


Mund war halb geöffnet, als hätte er noch einen letzten Fluch


ausstoßen wollen. Denn der alte Heckerhoff hatte zu Lebzeiten


viele Flüche ausgestoßen.



Marie schlug die Hände vors Gesicht, hoffte, das, was sie


gerade gesehen hatte, würde sich dadurch restlos aus ihrem Gedächtnis


löschen lassen.



»Himmel Herrgott …«, entfuhr es ihrem Vater, und das war


in der Tat bemerkenswert. Hinnerk führte niemals den Namen


des Herrn im Munde, weder im Gebet noch als Fluch.



»Jou«, war alles, was August dazu sagen konnte. Er stand da,


mit hängenden Armen, den unvermeidlichen Strohhut in den




Nacken geschoben, und war offensichtlich mit der Situation


überfordert.



Marie lehnte sich an eine Eiche, atmete tief ein und aus. Gott,


wäre sie bloß eine Minute eher losgefahren, dann wäre ihr jetzt


nicht so speiübel.



»Äh«, Hinnerk schluckte und nahm sicherheitshalber die


Pfeife aus dem Mund, »ich glaube, da müssen wir die Polizei


anrufen. Und vielleicht einen Notarzt.« Er verzog den Mund.


»Aber ich glaube, den Arzt können wir uns sparen.«



Franziska, die immer noch hysterisch schluchzte, verlegte sich


wieder aufs Jammern.



»Oder braucht Franziska einen?«, vergewisserte sich Hinnerk.



»Nein«, antwortete Adelheid leise, und jetzt bemerkte Marie,


wie bleich die junge Frau aussah.



Sie riss sich zusammen und half Adelheid, Franziska ins Haus


zu führen, während Hinnerk seinem Nachbarn die Hand auf die


Schulter legte und hoffte, dass der nun endlich die Polizei anrief.


Aber August starrte nur auf die Leiche seines Vaters. Also folgte


Hinnerk den Frauen ins Haus, wo er und Marie erst nach dem


Telefon suchen mussten, denn Adelheid und ihre Mutter waren


im Badezimmer und nicht ansprechbar.



Marie konnte sich später nicht mehr genau daran erinnern, was


sich an diesem sensationellen Tag, an dem der alte Friedrich Heckerhoff


zu Tode gekommen war, alles zugetragen hatte. Wie es


schien, war der alte Mann in aller Frühe auf den Hof gegangen,


um die Arbeit seiner Familie – boshafte Stimmen sprachen von


seinem Arbeiterstab – zu inspizieren und einen Grund zum


Meckern zu finden. Am Misthaufen war er dann wohl fündig


geworden und hatte sich ans Werk gemacht, dort Ordnung zu


schaffen – was immer der alte Friedrich darunter verstanden


haben mochte.



Dabei war er auf einem diarrhöischen Kuhfladen ausgerutscht


und in die Misthacke gefallen, die er selbst leichtsinnigerweise


mit den Zacken nach oben dort hatte liegen lassen. So jedenfalls


hieß es später im Polizeibericht nach ereignisreichen Tagen, in


denen ein Stab von Polizeibeamten Befragungen durchgeführt



hatte und am Heckerhoffschen Misthaufen das Oberste zuunterst


gekehrt hatte.



Die Birkendorfer gingen derweil ihrer Arbeit nach, steckten


die Köpfe zusammen, und alle waren sich einig, dass Friedrich,


dieser alte Bullerjan, so ein Ende hatte nehmen müssen. Da hatte


der Herrgott aber mal den Richtigen am Schlafittchen gepackt.


Auf seiner Beerdigung sollen keine Tränen geflossen sein. Und


der anschließende Leichenschmaus im Gasthaus »Zum Heidehirsch


« war aufgrund des übermäßigen Konsums von Bier und


Weizenkorn zu einem ziemlichen Gelage ausgeartet, worüber


Oma Minna sich angemessen entrüsten konnte. So waren alle


zufrieden gewesen. Doch dieser Friede sollte nur von kurzer


Dauer sein.



Denn – wie sich im Laufe der nächsten Wochen herausstellte –


war Friedrichs Tod nur die Fortsetzung einer alten, unvollendeten


Geschichte.




zwei




Der Mai hatte sich mit Regen verabschiedet und der Juni mit


Nieselregen Einzug gehalten, sodass die Heuernte noch nicht


begonnen hatte, als der alte Gerhard Mertens an einem Samstagabend


plötzlich verschwand. Gerhard lebte seit knapp zwei


Jahren zusammen mit seinem Bruder Wilhelm und dessen Frau


Gertrud im Altenteilerhaus vom Techtelmannhof. Vorher hatte


er in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung in der Stadtheide


gewohnt, wo er seit Kriegsende bei einer Gärtnerei beschäftigt


gewesen war. Geheiratet hatte er nie. Es hatte sich einfach keine


Frau für ihn gefunden, denn er war immer etwas wunderlich


gewesen.



Es war sieben Uhr abends. Die meisten Bewohner Birkendorfs


hatten die Arbeit im Stall beendet und wollten sich zum Abendbrot


niedersetzen, als der alte Wilhelm Mertens zögernd an die


Küchentür der Familie Techtelmann klopfte.



»Jo, Wilhelm, komm doch rein«, sagte Mathilde, die Bäuerin,


und ließ ihn eintreten



»Jo, som bieten«, murmelte der Alte und schlurfte mit gebeugtem


Rücken zu der Eckbank, die den großen Küchentisch


umrahmte. Er ließ sich schwerfällig darauf nieder und legte seinen


alten verfransten Strohhut auf den Tisch. Mathilde Techtelmann


verzog das Gesicht, schob den Wurstteller zur Seite, der zum


Abendbrot bereitstand, und nahm sich einen der Küchenstühle.


Ihr Mann Heini schob sich rasch ein Stück Blutwurst in den


Mund.



Wilhelm steckte den rechten kleinen Finger ins Ohr und


kratzte sich.



»Ich weiß nich so recht«, begann er umständlich, »habt ihr


den Gerhard heute gesehen?«



Bauer und Bäuerin warfen sich einen erstaunten Blick zu.



»Nee, ist er denn nicht bei euch?«, wollte Mathilde wissen.



Wilhelm zog die Schultern hoch. »In seinem Zimmer ist er


nich, und in der Küche ist er auch seit Mittag nich gewesen.«



»Vielleicht ist er ja bei Heckerhoffs oder Großenjohanns?«,


mutmaßte Heini Techtelmann.



»Nee«, krächzte der alte Wilhelm und kramte ein Stofftaschentuch


aus seiner Hosentasche, in das er so kräftig hineinschnäuzte,


dass Mathilde zusammenzuckte.



»Ja, aber«, sagte sie dann, »da muss man sich doch kümmern.


Vielleicht ist ihm ja was zugestoßen.« Sie sah ihren Mann vorwurfsvoll


an. »Wo doch der Gerhard in letzter Zeit so …« Sie


brauchte nicht weiterzureden, denn beide Männer wussten, was


sie meinte.



Bauer Techtelmann erhob sich schwer. »Nu macht mal nicht


gleich die Pferde scheu!«, schnaufte er. »Willem und ich gehen


jetzt noch mal in der Nachbarschaft fragen, und dann sehen wir


weiter.«



Eine halbe Stunde später durchkämmte ein Dutzend Männer


die Wiesen und Felder der Umgebung, während die Frauen in


Gertrud Mertens’ geblümten Polstersesseln im Wohnzimmer


saßen und warteten. Das Altenteilerhaus des Techtelmannhofes


war geräumig, aber nicht groß. Wenige Stufen vor der Haustür


mündeten in einen engen, fensterlosen Flur, von dem Küche,


Wohnzimmer, Bad und ein Schlafzimmer abgingen. Eine schmale


Holztreppe führte in den ersten Stock.



Es gab einen goldgerahmten rechteckigen Spiegel, der an


beiden Seiten von mehreren Garderobenhaken flankiert war.


Darüber, auf einer hölzernen Hutablage, verstaubten zwei


dunkle Herrenhüte. Auf einem halbrunden Tischchen fanden


zwei abgenutzte Gebetbücher Platz. Neben der Tür zum Wohnzimmer


hing ein Bild des lieben Jesus, über dessen Haupt ein


Heiligenschein schwebte. Unter dem Bild hing an einem Nagel


eine Weihwasserschale aus Plastik.



Im Wohnzimmer tickte die Standuhr. Es wurde nicht viel


gesprochen. Als es schon dunkelte, wurden draußen Stimmen


laut. Gertrud Mertens sprang auf, so schnell ihre brüchigen Knochen


und die zu großen Pantoffeln es zuließen, und stürmte zur


Haustür. Heini Techtelmanns ältester Sohn Josef und Hinnerk


Großenjohann schleppten ein klagendes Etwas die Treppe herauf.




Gertrud rang die Hände, eilte den dreien voraus und riss die


Tür zum Schlafzimmer ihres Schwagers auf. Dort legten sie den


alten Mann nieder. Er verzog das Gesicht, als hätte er Schmerzen,


reagierte jedoch nicht auf Gertruds leises Rufen.



»Heini ist schon nach Hause gelaufen, um den Doktor anzurufen


«, schnaufte Hinnerk Großenjohann, dem der Schweiß auf


der Stirn stand.



»Um Himmels christi willen, wo habt ihr ihn denn gefunden?


Er ist ja ganz verdreckt. Und … und, wo kommt denn das ganze


Blut her?«, hauchte Mathilde Techtelmann, die neben dem Bett


stand, während sich der Rest der Nachbarschaft in der kleinen


Diele zusammendrängte.



»Er lag in den Brombeerbüschen an der Olsterwiese. Wir haben


ihn zuerst gar nicht gesehen. Wenn er nicht angefangen hätte


zu jammern, würde er wahrscheinlich am Jüngsten Tag noch da


liegen.«



Hinnerk wischte sich mit seinem Taschentuch den Schweiß


von der Stirn, seine tief gebräunten Arme waren mit blutigen


Schrammen übersät.



»Jo«, sagte er und steckte das Taschentuch wieder in die Hosentasche,


»ich will dann mal sehen, dass ich nach Hause komme,


der Doktor müsste eigentlich jeden Moment hier sein.«



»Jo, Hinnerk, geh man, hab erst mal vielen Dank.«



Wilhelm Mertens, der mit bleichem Gesicht am Fußende des


Bettes stand, konnte den Blick nicht von seinem Bruder lassen,


der sich mühevoll auf die Seite wälzte und wie ein hilfloses Fohlen


mit dürren Beinen um sich trat.



Einige Minuten später bahnte sich Dr. Rukow einen Weg


durch die überfüllte Diele, und man begab sich gedankenverloren


auf den Heimweg.



Was die Dorfbewohner nicht wussten, war, dass der alte Gerhard


schluchzend von einem armen Toten und einem christlichen


Begräbnis gebrabbelt und dabei verzweifelt das Wiesengras aus-


gerupft hatte. Doch darüber hatte Hinnerk Großenjohann, der


ihn gefunden hatte, vorsichtshalber kein Wort verloren, sonst


landete der Alte am Ende noch im Irrenhaus.



Eine weitere verregnete Woche ging ins Land. Das Gras auf


den Wiesen konnte wegen der Feuchtigkeit noch nicht gemäht


werden. Die Bauern warteten händeringend auf Heuwetter und


gingen ihrer Arbeit nach. Da waren Zäune zu reparieren, Ställe zu


misten und Erntemaschinen zu warten. Der alte Gerhard Mertens


beruhigte sich wieder, und der Vorfall geriet in Vergessenheit.



Endlich kam Ostwind auf. Die wärmenden Sonnenstrahlen


trockneten das Gras, und die Erntemaschinen wurden aus der


Scheune geholt. Trecker brummten geschäftig über die Felder,


und es dauerte nicht lange, bis die Luft erfüllt war von einem unverwechselbaren


Duft nach Heu und Wärme und der Gewissheit


des nahenden Sommers.



Marie liebte solche Tage und verbrachte sie, wenn möglich,


im Garten, schnupperte an Mutters üppigen Rosen, aß sich satt


an den reifen Erdbeeren und erlaubte sich die Muße, im Schatten


unter den Apfelbäumen zu sitzen und ihre geliebten englischen


Krimis zu lesen. Blitz, der alte Bernhardiner, schnarchte zu ihren


Füßen, und Bolle, der übergewichtige, getigerte Kater, legte sich


ins hohe Gras auf die Lauer, um dem Hund hin und wieder eine


Ohrfeige zu verpassen.



Marie klappte ihr Buch zu und schloss die Augen. In diesem


Moment war alles still. Die Trecker schwiegen. Vor wenigen Minuten


waren sie noch emsig über die Wiesen gerattert und hatten


das Heu, das tagsüber zum Trocknen auf der Wiese verteilt war,


mit einem Schwader in Reihen zusammengeschoben, um es so


gut wie möglich vor der nächtlichen Feuchtigkeit zu schützen.


Marie konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, als diese Arbeit


von Hand erledigt wurde und sie als kleines Mädchen mit einer


Harke, die sie kaum hatte tragen können, geholfen hatte, das Heu


zu Haufen aufzuschichten.



Wenn Regen im Anzug war, hatten alle mithelfen müssen. In


der Kindheit hatten sie die Heuhaufen auch gern als Spielplatz


genutzt und dabei das Heu wieder über die Wiese verteilt. So


mancher Bauer war dann mit erhobener Faust hinter ihnen hergelaufen.


Zum Glück gehörte Laufen nicht zu den Stärken der


Bauersleute. Ihre Muskeln saßen eher in den Armen.



Lautes Kreischen schreckte Marie aus ihren Träumereien. Die




Schweine wurden gefüttert, und das Schreien würde erst aufhören,


wenn der letzte Trog gefüllt war. Marie blinzelte in die Sonne,


die schon weit im Westen stand, und wartete, bis alle Schweine


versorgt waren und Ruhe einkehrte. Dann stand sie auf, nahm ihr


Buch und ihre leere Kaffeetasse und wandte sich zum Gehen.



Es war ein Wunder, dass ihre Oma sie heute Nachmittag in


Ruhe gelassen hatte. Normalerweise fand sie immer etwas zu tun.


Wenn auf dem Feld und im Garten keine Arbeit wartete, dann


konnte die Zeit zum Putzen genutzt werden. Putzen ging immer.



Aber Marie kam nicht weit, denn auf dem Feldweg zwischen


ihrem Land und dem der Techtelmanns spielte sich etwas Seltsames


ab. Eine gebeugte Figur, Marie kniff die Augen zusammen


und identifizierte die Figur als Gerhard Mertens, ging zielstrebig


den Weg hinauf zur Olsterwiese. Er zog ein Gerät hinter sich her,


Marie konnte nicht erkennen, was es war. Hinter ihm humpelte –


mit erhobener Faust und erstaunlich flott – Elsbeth Techtelmann,


die als alte Tante auf dem Hof ihres Bruders Heini lebte. Marie


staunte nicht schlecht, als sie sah, wie flink die alte Frau unterwegs


war. Sie hatte die Elsbeth mit den ungleich langen Beinen immer


bemitleidet, aber wie sie da so langmarschierte, wirkte sie nicht


wie eine Behinderte, eher wie eine wippende Furie.



Elsbeth schrie irgendwas hinter Gerhard her, aber der schien


sie gar nicht zu hören. Die Furie holte auf und klopfte Gerhard


auf den Rücken. Der wandte sich um, ließ den Stiel seiner Last


ins Gras fallen, duckte sich und legte die Arme über dem Kopf


zusammen. Marie grinste. Das war ja besser als fernsehen. Elsbeth


bückte sich und wollte das Gerät an sich nehmen. Das allerdings


passte dem alten Gerhard wohl überhaupt nicht. Er versuchte,


Elsbeth den Stiel zu entreißen. Marie konnte jetzt sehen, worum


die beiden sich stritten. Es war eine Misthacke. Marie schluckte


und beobachtete das Gerangel.



Es war an der Zeit, sich einzumischen, fand sie, bevor da noch


jemand zu Schaden kam. Sie spurtete los, verlor am Gartenzaun


ihren Latschen, schleuderte den anderen auch weg und lief barfuß


über den grasbewachsenen Feldweg zu den beiden Kontrahenten,


die sie nach einer knappen Minute erreichte.



»Äh«, japste sie atemlos, »gibt’s ein Problem?«



Die beiden Alten hielten inne und starrten sie ein paar Sekunden


einmütig an. Dann legte Elsbeth los.



»Der Döskopp hat unseren ganzen Mist auf dem Hof verteilt,


und jetzt läuft er mit der Hacke weg.«



Gerhard hatte die Hacke mittlerweile wieder ins Gras geworfen


und blickte lauernd von einer zur anderen. Als Marie


das corpus Delicti mit den Zacken nach oben im Gras liegen


sah, begann ihr Herz zu klopfen. Plötzlich kam wieder Leben


in Gerhard. Er hob die Hacke auf, woraufhin Elsbeth sie ihm zu


entreißen versuchte. Aber Gerhard wollte sie sich auf keinen Fall


wegnehmen lassen.



»Was willst du denn damit, du Döskopp?«, schimpfte Elsbeth,


und Marie wurde es langsam unheimlich.



Was konnte sie schon ausrichten, wenn die beiden Alten hier


anfingen, sich zu prügeln.



Aber Gerhard kümmerte sich nicht um Elsbeth und machte


sich wieder auf den Weg Richtung Olsterwiese, die Hacke im


Schlepptau.



Elsbeth sah ihm wütend nach. »Der gehört doch eingesperrt«,


sagte sie. »Ich sag dem Willem Bescheid. Gott weiß, was der


Dämlack sonst mit der Hacke anstellt oder schon angestellt hat«,


fügte sie leise hinzu.



Marie blickte ihr verdutzt nach. Dann wandte sie sich nach


Gerhard um. Der war mittlerweile auf der Wiese damit beschäftigt,


das Heu, das ihr Vater am Nachmittag in Reihen zusammengeschoben


hatte, mit der Hacke wieder auf der Wiese zu


verteilen. Auf den umliegenden Feldern war niemand zu sehen.


Wahrscheinlich waren alle im Stall beim Melken. Was jetzt?



Sie konnte doch den Alten nicht einfach allein lassen. Der


hatte doch seinen Verstand abgegeben. Marie beschloss, hier


einfach abzuwarten und ihn zu beobachten, damit er am Ende


nicht auch noch in die Hacke fiel. Irgendwann würde Wilhelm


ja wohl auftauchen und sich um seinen Bruder kümmern. Trotz


des warmen Abends fröstelte sie. Sie versuchte, das Bild des toten


alten Heckerhoffs, das sich wieder in ihrem Kopf breitmachte,


durch das des blonden jungen Engländers zu ersetzen, das ihr


sonst im Kopf herumschwirrte.




Gerhard machte offensichtlich eine Pause. Er stand da, auf


den Hackenstiel gestützt, und starrte auf die Hütte, die auf der


Wiese stand und dem Weidevieh im Sommer als Unterstand


diente.



Breite Hosenträger über einem braun karierten Flanellhemd


hielten seine graue Manchesterhose, deren Bund ihm fast unter


den Achseln klemmte.



Plötzlich warf Gerhard die Hacke weg, ließ sich auf einen


Heuhaufen fallen und fing an zu weinen. Marie wusste nicht, was


sie tun sollte. Gerhard hatte ihr den Rücken zugedreht. Vielleicht


sollte sie die Hacke holen? Ja, dann konnte sie den Alten allein


lassen, und der konnte sich in Ruhe ausheulen. Sie ging langsam


auf die Hacke zu, Gerhard schluchzte.



Marie tat der Mann leid. Welcher Kummer ihn auch immer verfolgen


mochte, er ließ ihn nicht los. Sie hatte ihr Ziel fast erreicht,


als Gerhard sich plötzlich umdrehte und einen Schrei ausstieß.


Marie griff nach der Hacke und zog sich zurück. Gerhard versuchte


mühsam hochzukommen.



In diesem Moment hörte Marie jemanden rufen. Es war Wilhelm


Mertens, der schwerfällig über den Feldweg auf sie zugelaufen


kam.



»Gerhard!«, schrie Wilhelm und winkte ihnen zu.



Marie ging ihm entgegen, die Hacke fest in der Hand.



Gerhard hatte sich mittlerweile aufgerappelt und starrte seinen


Bruder, der japsend bei Marie angekommen war, schweigend an.



»Menschenskind, Löit«, keuchte Wilhelm, »man gut, dass du


ihm die Hacke weggenommen hast.«



»Kein Problem«, antwortete Marie, »ich bring sie dann mal


zurück.«



»Jou«, sagte Wilhelm und hielt sich die Seite.



Gerhard stand da wie ein Pinguin in der Sahara. Hilflos und


verwirrt.



»Komm, Gerhard«, sagte Wilhelm dann und griff den Arm


seines Bruders. »Wat machste bloß immer fürn Blödsinn.«



»Aber wir müssen uns dadrum kümmern!«, schniefte Gerhard.




»Jou, jou, das machen wir morgen«, beruhigte ihn Wilhlem.



»Jou, aber vergessen dürfen wir das nich«, insistierte Gerhard.


»Ein christliches Begräbnis. Das dürfen wir nich vergessen.«



»Is ja gut, is ja gut.« Wilhelm nickte Marie zu, die sich auf den


Weg machte.



»Da kann der Gerhard nix für, ganz bestimmt nich!«, rief er


ihr noch hinterher.



Marie glaubte ihm aufs Wort. Was konnte ein Mensch schon


dafür, wenn das Gehirn sich langsam in Kalk verwandelte. Sie


trottete langsam den Weg entlang und genoss das Gefühl des kühlen


Grases unter ihren Fußsohlen. Ein bisschen merkwürdig war


das Ganze ja schon. Wieso trieb sich Gerhard andauernd auf der


Olsterwiese herum? Und wieso rannte er mit dieser Misthacke


durch die Gegend und brachte Misthaufen durcheinander?



Da steckte doch irgendwas dahinter. Ob er nach etwas suchte?


Bloß wonach? Sie beschloss, die Sache mit ihrem Vater zu besprechen.




Als sie wenige Minuten später bei Techtelmanns ankam, um


die Hacke zurückzubringen, war Heini dabei, den Hof zu fegen.


Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah Marie verdrießlich


an.



»Ja, gib das Ding mal gleich her. Was der Gerhard sich bloß


dabei denkt, hier im Mist rumzuwühlen und dann mit der Hacke


abzuhauen.«



»Keine Ahnung«, antwortete Marie wahrheitsgemäß und


verabschiedete sich.



Auf dem Weg nach Hause kam sie immer mehr ins Grübeln.


Mit dem Gerhard stimmte etwas nicht, das war sonnenklar. Ob


er allerdings wirklich fähig wäre … Aber Marie wollte diesen


Gedanken, der sich ihr immer wieder aufdrängte, einfach nicht


zu Ende denken.



Sie hatte sich beeilt und den Weg über die Felder genommen, um


ihren Vater heute noch allein zu erwischen. Ihre Mutter würde ihr


bestimmt eine Predigt darüber halten, wie gefährlich es war, sich


in solche Streitereien einzumischen, und Predigten hörte Marie in


der Kirche genug. Die brauchte sie nicht auch noch zu Hause.



Sie wollte gerade die Deele betreten, als sie plötzlich glaubte,




ihren Namen zu hören. Sie lauschte. Tatsächlich, das war ihr


Name. Sie konnte die Herkunft des Rufes – eigentlich war es


mehr ein Murmeln – nicht orten und ging um die Hausecke


herum an der ausladenden Eibe vorbei. An der Hauswand hinter


der Konifere, die neben ihrem Zimmerfenster stand, bewegte sich


etwas. Sie ging am Gartenzaun entlang, blieb stehen und legte den


Kopf schräg.



»Bist du das, Papa?«



»Jouuu«, kam es gedämpft von der Hauswand zurück.



»Wieso hängst du an der Dachrinne?«



»Zum Kuckuck«, schnaufte ihr Vater und strampelte mit den


Beinen in der Luft, »mir ist die Leiter weggefallen, nun stell sie


doch mal wieder hin, verdammt!«



Marie begriff endlich, lief durch das Gartentor zur Hauswand


und fischte die Leiter hinter den Rhododendren hervor, während


ihr Vater ächzend versuchte, mit den Füßen Halt an der Hauswand


zu finden.



»Mach doch endlich! Kann mich nicht mehr halten!«



Marie schaffte es nicht mehr rechtzeitig, ihrem Vater die Leiter


unter die Füße zu stellen. Er fiel wie ein nasser Sack in die Büsche.


Marie hörte es krachen.



»Verdammt und zugenäht!«, fluchte Hinnerk und rappelte


sich mühsam wieder auf. Seine Stirn zierte eine Schramme. Er


stemmte seine Hände ins Kreuz und verzog das Gesicht.



»Was hast du denn bloß gemacht?«, wollte Marie wissen.



»Die Dachrinne sauber«, knurrte Hinnerk.



»Und dann ist die Leiter umgekippt?«



»Konnte mich gerade noch festhalten. Sag bloß deiner Mutter


nix«, murmelte er und wollte schon weggehen.



»Papa, ich muss dir was erzählen«, begann Marie.



Ihr Vater drehte sich um. »Du bist hoffentlich nicht schwanger


«, witzelte er.



Marie verdrehte die Augen.



»Und wenn schon«, erwiderte sie, und dann erzählte sie ihrem


Vater von dem Streit zwischen Elsbeth und Gerhard, von der


Misthacke und dass Gerhard immer über ein christliches Begräbnis


gesprochen hatte.



Hinnerk holte seine Pfeife aus der Hosentasche und hörte


aufmerksam zu. Als Marie fertig war, lachte er leise.



»Schade, dass ich das nicht gesehen habe. Die Elsbeth und


der Gerhard. Haha.« Dann wurde er ernst. »Ich weiß nicht, was


mit dem Gerhard los ist. Ich glaube, der war da oben«, Hinnerk


tippte sich an die Stirn, »noch nie ganz richtig beisammen, aber


andererseits … Man weiß nicht, was der früher erlebt hat. Irgendwas


war da. Der Willem hat mal gesagt, dass der Gerhard


fünfundvierzig irgendwie durchgedreht ist, obwohl er gar nicht


an der Front gewesen war. Danach war er wohl auch mal in der


Klapsmühle, weil er überhaupt nicht mehr geredet hat. Dann hat


er sich wieder erholt und die ganzen Jahre friedlich in der Gärtnerei


gearbeitet. Aber seit er hier ist, geht’s ihm wieder schlechter,


sagt der Willem. Was ihm nun eigentlich zu schaffen macht, das


weiß ich nicht. Es muss damals irgendwas vorgefallen sein. Aber


das wird wohl ein Geheimnis bleiben.« Hinnerk stöhnte leise.


»Nun komm ins Haus, sonst kommt deine Mutter gleich raus,


oder noch schlimmer, deine Großmutter.«



Marie pflückte ganz in Gedanken eine von den intensiv


duftenden Rosen ihrer Mutter vom Strauch und roch daran.


Hinnerk steckte seine Pfeife weg und hob schwerfällig die Leiter


hoch.



»Aber«, fragte Marie dann leise, »glaubst du, dass der Gerhard


… jemandem was antun könnte?«



Hinnerk ließ die Leiter wieder fallen und sah Marie aufmerksam


an. Er wusste genau, was sie meinte.



»Nein, das glaub ich nicht, und die Polizei glaubt’s auch nicht.


Ich halte zwar nicht viel von Polizisten, sind mir zu eingebildet,


aber ganz doof sind sie auch nicht.« Er klopfte ihr aufmunternd


auf die Schulter. »Mach dir nicht so viele Gedanken. Lass uns


lieber die Leiter wegbringen und reingehen, ich hab Hunger.«



Die beiden hoben die Leiter hoch und wollten sie gerade über


den Zaun hieven, als sie Oma Minna erblickten, die, ein Bündel


Schnittlauch in der einen Hand, ein Küchenmesser in der anderen,


bleich und reglos hinter der Eibe stand. Sie hatten sie nicht


kommen hören. Oma Minna war der einzige Mensch, den Marie


kannte, der in Holzschuhen geräuschlos gehen konnte.




»Oma«, rief Marie, die vor Schreck die Leiter hatte fallen


lassen, »was machst du denn da? Geht’s dir nicht gut?«



»Verdammt!«, fluchte Hinnerk.



»Blödsinn«, sagte Minna heiser und funkelte Hinnerk an, der


sich mit der Leiter und seinem geschundenen Kreuz abmühte,


»warum soll’s mir nicht gut gehen? Wo treibst du dich bloß immer


rum, Löit? Jetzt musste ich die ganze Arbeit in der Küche


allein machen. Deine Mutter ist noch in der Viehküche und dein


Vater … Na, das sieht man ja.«



Sie warf ihrem Schwiegersohn noch einen missbilligenden


Blick zu, drehte sich um und verschwand um die Hausecke. Marie


half ihrem Vater mit der Leiter. Dann gingen sie zum Abendessen.


Es gab Buchweizenpfannkuchen mit Speck und Schnittlauch.



drei




Es war einer dieser Sonntage, an denen die Welt stillzustehen


schien. Kein Lüftchen ging, kein Laut war zu hören, bis der Hahn,


der gerade, wie es seine Art war, das Gefieder gestreckt hatte, die


Bewohner des Großenjohannschen Hofes mit selbstbewusstem


Krähen aus dem Schlaf riss. Was kümmerte es ihn, dass Sonntag


war – der Tag des Herrn. Auf einem Bauernhof gab es keine


Sonntage.



Die Schweine im Stall schnüffelten wie jeden Morgen grunzend


in ihren leeren Futtertrögen, und die Kühe warteten geduldig


darauf, von der Milch in ihren prallen Eutern befreit zu


werden. Alles war wie immer, auch am Tage des Herrn. Es sollte


einer der letzten ungestörten Tage sein, den der friedliche Ort


Birkendorf für lange Zeit erleben sollte. Doch davon ahnten die


Bewohner noch nichts.



Marie, die ihre Oma Minna zur Frühmesse begleitete, schloss


die Augen, um weiter von dem jungen Engländer zu träumen, den


sie am gestrigen Abend näher kennengelernt hatte. Und nach Ansicht


ihrer Mutter und ihrer Oma war es höchste Zeit, dass sie mal


jemanden näher kennenlernte. Sie war ja schon zweiundzwanzig


und galt damit in Birkendorf als spätes Mädchen, die meisten


Nachbarmädchen heirateten mit achtzehn oder neunzehn.



Dieser Mann jedenfalls, der ihr in den Kneipen der Stadt schon


mehrfach über den Weg gelaufen war und der sie gestern im Old


Scotch club endlich angesprochen hatte, ging ihr einfach nicht


mehr aus dem Kopf. »Hallo«, hatte er gesagt und sie gefragt, ob


sie was trinken wolle. »Klar«, hatte sie geantwortet und gehofft,


dass er nicht sofort bemerkte, wie sehr er ihr gefiel. Er war groß


und hatte breite Schultern und dabei ein ansehnliches Hinterteil –


das war wichtig. Marie fand nichts langweiliger als eine Jeans ohne


Hintern. Und noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Augen


gesehen, nur im Fernsehen. Ein tiefes Blau, das ähnlich wie die


Farbe seines T-Shirts schimmerte.



Und mal davon abgesehen, dass der Typ eine Augenweide war,




schien er obendrein clever zu sein. Er sprach nämlich Deutsch.


Zwar nicht ganz akzentfrei, aber die Grammatik war tadellos.


Und das war für einen Engländer nun wirklich außergewöhnlich.


Sie begann sich ernsthaft für ihn zu interessieren. Leider waren


sie ohne Verabredung auseinandergegangen, was Marie äußerst


ärgerlich fand und ihr eine ziemlich schlaflose Nacht bereitet


hatte. Infolgedessen war sie überhaupt nicht begeistert davon,


dass ihre Oma darauf bestanden hatte, zur Frühmesse gefahren


zu werden.



Marie fragte sich, wann sie wohl endlich die Kraft aufbringen


würde, ihren Plan umzusetzen und in der Nähe der Uni mit ihren


Freunden eine WG zu gründen. Im Moment bewohnte sie noch


ihr altes, schmuckloses Mädchenzimmer mit den hellen Möbeln


aus leichtem Nadelholz, die ihre Urgroßmutter vor vielen Jahrzehnten


mit auf den Hof gebracht hatte.



Die Frühmesse begann um halb acht, aber Oma Minna ließ es


sich nicht nehmen, stets eine der ersten Gläubigen in der Kirche


zu sein. Das garantierte ihr einen Logenplatz nahe am Eingang,


der seitlich der Bänke lag. Von hier aus konnte sie ungeniert ihrer


Lieblingsbeschäftigung nachgehen, nämlich das Kommen oder


Wegbleiben der Nachbarschaft zu kontrollieren.



Sie hatten kaum in der Bank Platz genommen, als ihr nächster


Nachbar, Bauer Heini Techtelmann, mit seiner Frau Mathilde


und seiner älteren Schwester Elsbeth die kleine Kapelle des


St.-Vinzenz-Klosters betrat. Die beiden Frauen trugen dunkle,


leichte Sommermäntel, wie es sich gehörte, Heini eine schwarze


Hose mit steifen Bügelfalten und ein graues Sakko über dem


weißen Hemd. Er war ein gedrungener Mann, mit breitem Kreuz,


kurzen Beinen und Glatze.



Die meisten Männer von Birkendorf, die die Vierzig überschritten


hatten, waren mehr oder weniger kahl. Hinnerk, Maries


Vater, bildete eine Ausnahme, er hatte nur sehr ausgeprägte


Geheimratsecken. Die heilige Mathilde – so nannte Marie Heinis


Frau im Stillen – war unwesentlich größer als ihr Mann, was


möglicherweise auch daran lag, dass ihre grauen Haare stets fachgerecht


onduliert waren und sie immer sehr aufrecht ging. Dabei


faltete sie die Hände vor dem Bauch und presste die Ellbogen



an die nicht vorhandene Taille. Bei besonderen Anlässen – und


dazu gehörte zweifellos auch der sonntägliche Kirchgang – hing


dezent eine schwarze Handtasche an ihrem Handgelenk.



Hinter der heiligen Mathilde humpelte ihre Schwägerin, die


alte Tante Elsbeth, die, ihren grauen Schädel leicht nach vorn


gebeugt, forschend den Blick über die Kirchenbänke gleiten ließ.


Sie nickte Oma Minna missvergnügt zu. Marie brauchte ihre


Oma nicht anzusehen, um zu wissen, dass diese unmerklich, aber


hochbefriedigt lächelte. Denn sie war schneller gewesen als die


Nachbarn – vor allem als die griesgrämige Elsbeth –, der Sonntag


begann vielversprechend.



Nach und nach tröpfelten die Gläubigen herein, tippten ihre


Finger in die Schale mit dem Weihwasser und bekreuzigten sich.


Die meisten Gesichter kannte Marie, wenn auch nicht immer die


Namen dazu. Die Männer drehten ihre Hüte in den rauen Händen


und gingen mit schweren Schritten zu den hinteren Bänken.


Viele hielten sich noch immer an die alte Geschlechtertrennung:


die Männer auf der rechten Seite, die Frauen auf der linken. Und


es waren hauptsächlich Frauen, die dieses Prinzip aufweichten


und sich auf die Sitzbänke der Männerseite wagten.



Wenigstens hier in der Kirche war ein Hauch von Emanzipation


zu spüren, dachte Marie. Vom weltlichen Leben draußen im


Dorf konnte man das nicht behaupten. Da lief alles noch genau


so wie in den letzten Jahrhunderten. Die Frauen kümmerten


sich um das Feld, das Haus, den Garten, das Vieh, die Küche


und die Kinder und natürlich um die Männer. Marie fragte sich


manchmal, wer sich eigentlich um die Bäuerinnen kümmerte,


wahrscheinlich die unverheirateten Töchter.



Mittlerweile hatten sich die Bänke mit Männern und Frauen


gefüllt. Die Schulkinder und Jugendlichen würden sich erst zum


Hochamt um halb zehn aus den Betten quälen. Die meisten


Kirchbesucher hatten bereits einen arbeitsreichen Morgen im


Stall hinter sich, wo die Kühe gemolken und die Schweine gefüttert


werden mussten, bevor man sich unter die Dusche begab, den


Sonntagsstaat aus dem Kleiderschrank holte und der Pflicht eines


jeden guten Katholiken zum sonntäglichen Kirchgang nachkam.



In diesem Moment betrat Franziska Heckerhoff die Kapelle.




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