Die Tote am Kröpcke
Die Räder des Koffers ratterten über das Pflaster. Wenn sie sich beeilte, würde sie den Zug noch erwischen. Sie beschleunigte ihre Schritte. Dass ihre Tochter aber auch immer alles auf die letzte Minute organisieren musste. Sie war schließlich nicht mehr die Jüngste. Als ob ihr das so leicht fiele, in aller Herrgottsfrühe die Koffer zu packen und zum Bahnhof zu hetzen. Na wenigstens regnete es nicht.
Das war ja schon fast ein Geschenk, wenn man an das Wetter der letzten Tage dachte. Es hatte nur geschüttet, und die Straße war immer noch feucht, obwohl die Nacht doch trocken gewesen war. Sie sah auf die Uhr. Nur noch knapp fünfzehn Minuten, aber sie war schon fast am Kröpcke. Das war wirklich eine gute Idee gewesen, in die Innenstadt zu ziehen. Da war sie nah an allem dran, vor allem am Bahnhof. Konnte von hier aus gleich nach Berlin fahren, und musste nicht mal umsteigen.
Wenn sie denn nach Berlin fahren wollte, dazu kam sie ja gar nicht, und wenn sie ehrlich war, machte ihr so eine riesige Stadt auch Angst. Früher, als Leopold noch gelebt hatte, da hatten sie manche Reise unternommen, sogar bis nach Südtirol waren sie gefahren, allerdings mit dem Bus.
Sie überquerte den Opernplatz, hechtete die Georgsstraße entlang und warf einen flüchtigen Blick in die Auslagen von Peek & Kloppenburg. Die Stadt war noch leer, nur einer von diesen Pennern kam gerade die Treppe der Passerelle herauf. Und – Gerlinde Vormbeck blieb einen Moment stehen und kniff die kleinen grauen Augen zusammen – an der Kröpcke-Uhr saß jemand und schlief. War das etwa eine Frau? Meine Güte, wie tief konnte man sinken.
Gerlinde beschloss einen großen Bogen um die Kröpcke-Uhr zu machen. Am Ende hatte die noch irgendeine ansteckende Krankheit, und das fehlte ihr ja gerade noch, wo sie doch ihren Enkelsohn hüten sollte. Eine ganze Woche lang. Katjas Tagesmutter war krank geworden.
Tja, als Gerlinde noch jung war, war das alles einfacher gewesen. Da wohnten Oma und Opa noch mit im Haus und konnten gut mal auf die Kinder aufpassen. Aber wenn sie ehrlich war, das war auch nicht immer das Gelbe vom Ei gewesen. Gerlinde ratterte an der Uhr vorbei und warf der Frau einen scheuen Blick zu.
Du lieber Gott, das war ja noch ein halbes Kind, und bewegt hatte sie sich auch noch nicht. Ob die irgendwas genommen hatte? Drogen oder was? Und was hatte die für'n komischen Umhang um? Das sah ja aus wie ein Badetuch, und das bei diesen Temperaturen. Na gut, es war Frühling, und sie selbst war vielleicht ein bisschen empfindlich, aber es waren doch höchstens fünfzehn Grad.
Gerlinde wurde unsicher. Ob die Hilfe brauchte? Sie sah sich um. War denn kein Mensch unterwegs, der sich darum kümmern konnte? Nein, aber es war ja gerade mal halb sechs. Gerlinde brummte ärgerlich und blieb unschlüssig stehen. Man konnte sie einfach wecken und dann verschwinden. Sie ließ ihren Koffer fallen, war keiner da, der ihn klauen konnte, und ging bis auf drei Meter zu dem Häuflein Mensch, das bewegungslos vor der Kröpcke-Uhr hockte, hinüber.
»Hallo!«, rief sie aus sicherer Entfernung, »brauchen Sie Hilfe?«
Keine Reaktion. Das war wirklich ein Badetuch. Ein großes rosa Badetuch, das das Häuflein fast vollständig verdeckte. Nur ein kleines Gesicht mit strähnigem, dunklem Haar war zu sehen. Die Augen waren geschlossen. Menschenskind, dachte Gerlinde, das Mädchen konnte höchstens sechzehn oder siebzehn sein. Und sie vertrödelte hier ihre Zeit. Sie ging auf das Kind zu und stupste sacht an seine Schulter.
»Hallo, was ...«, Gerlinde kam nicht mehr dazu, ihre Frage auszuformulieren, denn das Häuflein kippte sachte zur Seite.
Zum Vorschein kamen nackte Füße mit schmutzigen Sohlen. Gerlinde legte erschrocken die Hände an die Wangen, blickte auf das reglose Bündel Mensch. Sah sich dann noch mal um und kam zu dem Schluss, dass es angebracht wäre, um Hilfe zu rufen.
Und das tat sie dann auch.
In der Wohnung im dritten Stock der Hausnummer 14A in der Gretchenstraße im hannoverschen Stadtteil List herrschte tiefer Friede. Aus dem geräumigen Schlafzimmer drangen gleichmäßige Atemzüge, die nur teilweise geschlossenen Jalousien malten ein Streifenmuster aus Licht an die Wand. Eine antike Standuhr aus Rosenholz, der ganze Stolz der weiblichen Bewohnerin, nährte diesen Frieden vom gegenüberliegenden Wohnzimmer aus mit unermüdlichem, freundlichem Ticken, das durch die geöffneten Türen ins Schlafzimmer drang und eine fast hypnotische Wirkung auf die Bewohner ausübte.
Der dunkle Gongschlag verkündete die sechste Stunde dieses Montagmorgens im Mai, und im selben Moment surrte ein Handy. Jemand verschluckte sich und begann zu husten. Charlotte Wiegand erhob sich langsam und fuhr im Halbdunkel mit ihrer Hand über ihr Nachttischchen. Ein Glas fiel klirrend um, glücklicherweise leer. Sie erwischte ihr Handy.
»Ja«, sagte sie heiser und ließ sich wieder aufs Bett fallen. »Hmm«, brummte sie, und »okay, in einer halben Stunde.«
Sie erhob sich und rieb sich über die Augen. »Wieso immer am Montag?«, murmelte sie.
»Was ist los?«, fragte eine Männerstimme.
»Eine Tote an der Kröpcke-Uhr«, erwiderte Charlotte und griff sich an die Stirn. Meine Güte, konnten die Leute nicht mehr im Bett sterben? Und am Dienstag oder Mittwoch? Sie stand auf und ging über die knarzenden Dielen ins Bad.
Es gab Momente, da beneidete sie Rüdiger, ihren Kollegen und Lebensgefährten, um sein momentanes Handicap. Dies war so einer. Er plagte sich nämlich seit fünf Wochen mit einem Bänderriss herum, den er sich bei einer wenig rühmlichen Verfolgungsjagd zugezogen hatte. Er selbst wollte allerdings nicht darüber sprechen, war mit seiner Behinderung und sich selbst höchst unzufrieden und denkbar schlecht gelaunt. Stakte ruhelos auf seinen Krücken durch die Wohnung auf der Suche nach Beschäftigung – zugegeben, er war erstaunlich flink damit unterwegs – aber im Haushalt ließ sich nicht so leicht eine Beschäftigung finden, wenn man Krücken mit sich herumschleppte.
Charlotte schlurfte ins Bad. Als sie sich die Zähne putzte, musterte sie im Spiegel eine übermüdete, dunkelhaarige Frau mit blauen Augen. Sie strich die Haare an den Schläfen zurück und schätzte mit herabgezogenen Mundwinkeln die Länge des grauen Haarabschnitts am Ansatz ab. Das Ergebnis war nicht dazu angetan, ihre Laune zu heben. Sie brauchte unbedingt eine neue Tönung.
Wenig später stand sie in Jeans und T-Shirt – vielleicht sollte sie einen Blazer überziehen, es war ziemlich kühl – in ihrer geräumigen Küche und nippte an einem Kaffee. Rüdiger kam hereingehüpft und hielt sich am Türrahmen fest.
»Soll ich mitkommen?«, fragte er und fuhr sich durch die Haare.
Charlotte stand an der Arbeitsfläche und musterte ihren Freund lächelnd. Er war gerade aus dem Bett gestiegen und lehnte nun in Boxershorts, den geschienten Fuß angehoben, im Türrahmen. Die leicht angegrauten, vollen Haare reckten sich in alle Richtungen, und die Figur ... mmh – immer noch lecker.
»Nee«, sagte Charlotte und stellte ihre Kaffeetasse weg, »das schaff ich schon alleine.«
An der Kröpcke-Uhr erwartete Charlotte ein Menschenauflauf. Ihre Kollegen von der Schutzpolizei versuchten mühsam, das Publikum – Charlotte sah tatsächlich einen älteren Herrn mit einem Fernglas hinter der Absperrung stehen – zurückzudrängen.
Da es in der Innenstadt von Hannover, so wie in jeder anderen Großstadt auch, naturgemäß nie freie Parkplätze gab, – auch nicht zu dieser frühen Stunde – hatte sie ihren funkelnagelneuen Golf kurzerhand auf dem Opernplatz geparkt. Sie zog ihren dunkelblauen Blazer enger um die Schultern und schubste die Gaffer, die ihr im Weg standen, unwirsch zur Seite. Es war ein trüber Montagmorgen. Der Frühling hatte sich bisher von der sparsamen Seite gezeigt, und die wenigen warmen Sonnentage hatte Charlotte größtenteils mit Blick auf die blühenden Ahornbäume vor ihrem Bürofenster an der Waterloostraße genießen müssen.
Sie erkannte Dr. Wedel, den Rechtsmediziner, der in seiner obligatorischen schwarzen Kluft neben der Uhr stand und über seinen ausladenden Bauch hinweg ein rosa Häuflein zu seinen Füßen betrachtete. Kramer von der Spusi fotografierte. Kollege Schliemann, der Bergheim vertrat, war noch nicht vor Ort.
»Morgen«, sagte Charlotte, ohne den Blick von dem Badetuch zu wenden, aus dem ein Kopf mit strähnigem, schwarzem, offensichtlich gefärbtem Haar hervorlugte.
»Morgen«, erwiderte Wedel und klopfte mit seiner Rechten auf Charlottes Schulter. Die wich unwillkürlich zurück, und Wedel rückte schmunzelnd seine neue Hornbrille zurecht. Es hatte ihm schon immer Spaß gemacht, Polizisten zu schockieren und Charlotte im Besonderen. Sie konnte von Glück reden, dass er ihr mit seiner behandschuhten Hand, die eben noch die Leiche untersucht hatte, nicht die Wange getätschelt hatte.
Charlotte betrachtete das rosa Gebilde. Kleine, nackte Füße schauten unter einem Flanellnachthemd hervor, das bis zu den Knöcheln reichte. Der Körper lag zusammengekauert am Fuß der Uhr, die Hände im Badetuch festgekrallt, die Arme um die angewinkelten Knie gelegt.
»Was ist hier passiert?«, fragte Charlotte, ohne den Blick von der Toten zu nehmen.
»Das wüsste ich auch gern«, antwortete Wedel mit rauer Stimme.
Er schnaufte ein bisschen, und Charlotte fragte sich, wieso er als Mediziner so wenig Rücksicht auf seine Gesundheit nahm. Sie schätzte sein Gewicht auf hundertfünfzig Kilo oder mehr.
»Also«, schnaufte Wedel weiter, »das Mädchen ist vielleicht sechzehn Jahre alt, möglicherweise ein bis zwei Jahre älter.«
»Todesursache?«, wollte Charlotte wissen.
»Tja, dazu wollte ich gerade kommen, werte Frau Hauptkommissarin, denn das ist wirklich seltsam.« Er beugte sich zu der Toten hinunter und deutete auf eine etwa pflaumengroße Platzwunde etwas oberhalb der Ohrmuschel. Blut klebte im Haar.
»Ist das die Todesursache?«, fragte Charlotte ungläubig.
»Das halte ich für unwahrscheinlich, obwohl sie ihr kurz vor ihrem Tod zugefügt worden sein muss. Gestorben ist sie wahrscheinlich in den frühen Morgenstunden, gegen drei oder vier Uhr. Über die Ursache kann ich noch nichts sagen.«
»Das heißt, sie ist noch keine vier Stunden tot?«
»Genau.«
In diesem Moment sah Charlotte einen hochgewachsenen, schlanken Mann mit vollem dunklem Haar und Dreitagebart auf sie zukommen. Charlotte rümpfte die Nase.
»Morgen Schliemann«, hieß sie ihn murrend willkommen.
»Morgen, Kollegin.«
Charlotte gab einen undefinierbaren Laut von sich. Sie war seine Vorgesetzte, aber irgendwie schien das noch nicht bei ihm angekommen zu sein. Er schien sie eher als jagdbares Wild zu betrachten, wie er das mit allen weiblichen Beamtinnen der KFI 1 zu tun pflegte. Dummerweise kam er bei den Kolleginnen entschieden zu gut an. Charlotte bezeichnete den Zentralen Kriminaldienst insgeheim als Schliemanns Harem. Nur Rüdiger wusste davon, und der fand, dass sie maßlos übertrieb.
Charlotte hatte keine Lust, Schliemann ins Bild zu setzen. Sollte der sich seine Informationen selbst von Wedel besorgen. Sie ging in die Knie und betrachtete das Gesicht der Toten. Es war makellos, bis auf einen kleinen Aknepickel, der ihr Kinn verunzierte. Eine kindliche Stupsnase erhob sich über schmalen Lippen. Lange, dunkle Wimpern rahmten die geschlossenen Lider. Ein Kind, dachte Charlotte. Ein Kind, das offensichtlich von zu Hause weggelaufen war. Einem Zuhause, das es schlecht behandelt hatte? So schlecht, dass es jetzt tot an der Kröpcke-Uhr lag.
Wie auch immer, dachte Charlotte und erhob sich. Wer immer für dieses Kind verantwortlich gewesen war, musste sich auf ein paar unbequeme Fragen gefasst machen.