Leseprobe Inspector Bradford und der fiese Friese
EINS
Carolinensiel, Ostfriesland
Bendine stand in der Küche und blickte hinaus in ihren
Garten.
Es war heiß und sonnig gewesen. Einer von diesen
Tagen,
die sie hier an der Nordseeküste nicht oft erlebten. Noch
war
es still, die Gäste erwartete sie erst in zwei Stunden. Aber
alles
war vorbereitet. Es würde Schnittchen geben,
Würstchen,
Kartoffelsalat und Krabben in Weißwein gedünstet. Das
hatte
ihre Schwester Elke beigesteuert. Elke war schon vor
zwei
Tagen aufgekreuzt, um ihrer Schwester bei den
Vorbereitungen
zu helfen. Natürlich war Bendine ihr dankbar dafür,
aber
sie würde noch dankbarer sein, wenn Elke sie nicht
ständig
als »jungen Hüpfer« bezeichnen würde. Sie fand das
einfach
unpassend, ganz besonders, weil sie heute sechzig Jahre
alt
wurde. Na gut, Elke war fast zehn Jahre älter als sie,
aber
Bendine musste zugeben, dass man ihr die
neunundsechzig
nicht ansah.
Sie griff in ihre Schürzentasche und holte den
Taschenspiegel
hervor, den sie seit dem gestrigen Besuch beim Friseur
mit
sich herumtrug. Und das war auch Elkes Schuld. Sie ließ
sich
immer so bekloppte Geburtstagsgeschenke einfallen. Zu
ihrem
Fünfzigsten hatte sie Bendine in einen Tattooladen
geschleppt.
Bendine war froh, dass sie selbst die – wahrscheinlich
mittlerweile
welke
– Rose auf ihrem Hinterteil, die sie ihr verpasst
hatten, nicht sehen konnte. Damals hatte sie das noch
witzig
gefunden, da hatte Stella noch gelebt.
Aber Stella, ihr einziges Kind, war gestorben und hatte
ihr
eine Enkeltochter hinterlassen, deren Geburt sie das
Leben
gekostet hatte. Nele war mittlerweile sieben Jahre alt und
der
Mittelpunkt von Bendines Leben. Ihr Mann Friedhelm
hatte
sich ebenfalls schon vor Jahren aus dem irdischen Leben
davongemacht,
aber diesen Verlust hatte Bendine nicht als
dramatisch
empfunden. Wenn sie ehrlich war, kam sie ohne den
alten Eigenbrötler viel besser klar. Und sie war ja nicht
allein.
Fenja, ihre Nichte, lebte seit ein paar Jahren bei ihr in der
Pension
und kümmerte sich liebevoll um Nele.
Bendine seufzte. Nein, sie konnte sich nicht beklagen,
es
ging ihr gut. Ihre Pension war im Sommer fast immer
ausgebucht,
und im Frühjahr und Herbst hatte sie viele
Stammgäste,
die dem Hauptansturm der Touristen auf Carolinensiel in
den
Sommermonaten entgehen wollten. Gesund war sie auch,
und
was das Aussehen anbelangte, konnte sie durchaus
zufrieden
sein.
Okay, sie war nicht gerade dünn, nicht so dünn wie
Elke,
aber sagten die Ärzte nicht, dass ein paar Kilo mehr
gesünder
seien als ein paar zu wenig? Sie fragte sich allerdings,
wieso
Elke dann so gesund war. Wie auch immer. Sie stand hier
in
ihrer Küche, ziemlich fit
für ihre sechzig Jahre, finanziell
unabhängig,
sozial konsolidiert, mit einem Tattoo auf dem Hintern
und einer unmöglichen Frisur.
Wieso hatte sie sich bloß dazu überreden lassen? Ihre
Haare
standen ab wie bei einem Staubwedel. Und dann dieses
Grau!
Als sie vom Friseur nach Hause gekommen war, war sie
gleich
ins Badezimmer gerannt und hatte den Kopf unter den
Wasserhahn
gehalten. Danach war’s noch schlimmer gewesen. Elke
hatte geschimpft und versucht, die Haare wieder in Form
zu
bringen. In Form!
Bendine fand, sie hatte genau das Gegenteil damit
angestellt.
Und in zwei Stunden würden die Gäste kommen und
sich wahrscheinlich köstlich über ihre neue Haartracht
amüsieren.
Egal. Bendine zuckte die Achseln, sie würde jetzt
ihre
Jeans und das schwarze Spitzenshirt anziehen, das Fenja
ihr
geschenkt hatte, und ein bisschen Make-up
auflegen.
Sie sah auf die Uhr. Fenja war nach Bremen gefahren,
um
diesen englischen Inspector vom Flughafen abzuholen,
der
sich für eine Woche in der Pension einquartiert hatte.
Bei
Männern wie diesem Bradford wünschte sich Bendine,
noch
zwanzig Jahre jünger zu sein. Den würde sie auch heute
noch
gern vernaschen. Ein Jammer, dass er kein Deutsch sprach
und
sie kein Englisch, obwohl sie nach seinem ersten Besuch
eine
Kurs in der Volkshochschule besucht hatte. Damals hatte
er
in Carolinensiel zusammen mit Fenja einen Mord
aufgeklärt
und gleichzeitig ihrer aller Leben verändert. Ja, der
Anblick
von Inspector Mark Bradford konnte ihr Herz immer noch
zum Hüpfen bringen.
Als Bendine die Küche verlassen wollte, lief sie Edgar in
die
Arme, dem Neffen ihres verstorbenen Mannes. Zwar hatte
sie
ihn nicht eingeladen, aber das war für Edgar nie ein
Hindernis,
kostenlos ein paar Tage bei Bendine an der See zu
verbringen,
wann immer er Zeit und Lust hatte.
»Oh Bendine, ich wollte eigentlich nur schnell einen
kleinen
Imbiss nehmen.« Er warf einen Blick auf seine
Armbanduhr.
»Es dauert ja noch ein Weilchen, bis es losgeht, nicht
wahr?«
»Tut mir leid.« Bendine war ziemlich gnadenlos, wenn
es
darum ging, ihre Vorräte zu schützen. »Die Küche ist noch
für
zwei Stunden geschlossen, du kannst dir ja bei Heini ein
Matjesbrötchen
schnorren, wenn du nicht mehr so lange
durchhältst.«
Edgar steckte die Hände in die Gesäßtaschen seiner
Cordhose
und wippte mit den Zehenspitzen. »Ja ... das ginge
natürlich
auch.«
»Genau, mach das.« Bendine umfasste Edgars schlaffe
Oberarme und drehte ihn Richtung Haustür. Dann ging
sie
in ihr Zimmer, während Edgar unschlüssig in der Diele
stehenblieb.
Nachdem Bendine gegangen war, schlich er in die
Küche.
***
Marlene war ziemlich betrunken. Und Fenja fühlte sich
auch
nicht gut. Sie hätten auf die Flasche Sekt verzichten
sollen,
die sie sich zusammen mit Mark Bradford gleich nach
seiner
Ankunft gegönnt hatten. Eigentlich hatten Marlene und
sie
das meiste getrunken. Sie hatte nämlich genau gesehen,
wie
Bradford bei seinem ersten Schluck den Mund verzogen
hatte.
Und Fenja musste ihm recht geben. Ein ekelhaft süßes
Gesöff
hatte ihre Mutter da wieder ausgesucht, um auf Tante
Bendines
sechzigsten Geburtstag anzustoßen. Sie und ihre
Freundin
Marlene hatten eine Flasche tapfer geleert und waren dann
auf
das herbe Jever-Bier umgestiegen. Für die
Geschmacksnerven
anfangs eine ziemliche Herausforderung.
Mittlerweile waren alle Gäste eingetroffen. Der
Frühstücksraum,
in dem sich alle versammelt hatten, war angefüllt mit
dem Gemurmel und Gelächter der Gäste. Einige von
ihnen
hatten sich bereits einen ersten Gang vom Büfett
einverleibt
und nahmen Anlauf für den zweiten. Bradford hatte sich
gerade
ein Pumpernickel-Kanapee mit Leerdammer Käse vom
Tresen geholt. Er lächelte Fenja zu und schob sich das
Häppchen
mit geschlossenen Augen in den Mund. »Hm ...
delicious«,
murmelte er, während Marlene kicherte. »Wie kann
man bloß so auf Pumpernickel stehen?« Sie wandte sich
an
Fenja. »Was heißt Pumpernickel auf Englisch?«
»Pumpernickel«, antwortete Fenja und nahm einen
Schluck
Bier aus der Flasche.
»Echt?«
»Ja, die sagen aber eher Pampernickel.«
»Exactly: Pampernickel«, bestätigte Bradford
lächelnd.
In diesem Moment trat Barne Ahlers, Fenjas derzeitiger
Lebensgefährte, an den Tisch.
»Hallo, Leute«, sagte er, nickte Marlene zu, streifte
Bradford
mit einem misstrauischen Blick und drückte Fenja
einen
Kuss auf den Mund.
»Gibt’s hier irgendwo noch einen freien Stuhl?«, fragte
er
mit erhobener Stimme, denn die Geräuschkulisse im
Raum
hatte proportional zum Alkoholkonsum der Gäste
zugenommen.
»In der Küche«, rief Fenja, und Ahlers
verschwand.
In der Zwischenzeit war Marlene näher an Bradford
herangerückt
und streichelte seine Wange. Meine Güte, Fenja
wünschte sich, ihre beste Freundin wäre ein wenig
zurückhaltender.
Sie saß ja fast auf seinem Schoß! Und ihm schien das
zu gefallen. Klar, Marlene war keine Frau, deren
Annäherung
ein Mann, der halbwegs bei Sinnen war, ablehnen
würde.
Wenn Marlene einen Mann wollte, dann bekam sie ihn
auch.
Das war schon immer so gewesen und würde wohl auch so
bleiben.
Fenja verzog den Mund. Du bist eifersüchtig, sagte sie
sich
und setzte die Jever-Flasche an. Dabei hatte sie keinen
Grund
dazu, sie war schließlich in festen Händen, und Barne
brauchte
sich hinter dem Inspector wirklich nicht zu verstecken.
Sie
konnte sich also nicht beklagen und beschloss, großzügig
zu
sein. Sie würde Marlene Mark Bradford überlassen,
zumindest
für heute Abend. Barne Ahlers hatte einen Stuhl und eine
Flasche
Jever ergattert und setzte sich neben Fenja. Dabei warf
er
Marlene und Bradford, die sich offensichtlich eine Menge
zu
erzählen hatten, einen zufriedenen Blick
zu.
»Ganz schön voll hier«, sagte Ahlers. »Ich hab schon
mit
Bendine und deiner Mutter angestoßen. Die sind ja alle
ganz
gut bei Stimmung.« Er sah sich um. Sein Blick blieb an
Edgar
hängen, der sich am Tresen seinen Teller volllud. »Was
macht
der denn hier? Hat Bendine den etwa eingeladen? Ich
dachte,
sie kann ihn nicht ausstehen.«
»Kann sie auch nicht«, sagte Fenja. »Aber Edgar
wartet
nicht, bis man ihn einlädt, der kommt von allein, so wie
ein
Schnupfen.«
Sie lachte leise und fragte sich gleichzeitig, seit wann
Edgar
diese Baseballkappe trug, den Schirm tief ins Gesicht
gezogen.
Typisch Edgar, total uncool. Wenn schon Baseballkappe,
dann
doch bitte mit dem Schirm im Nacken.
»Und wer ist das da?«
Ahlers wies auf einen älteren Mann, der allein mit
einer
Flasche Jever am Fenster stand. Er hatte einen grauen
Vollbart
und einen Haarschopf, der Ähnlichkeit mit Bendines
Frisur
hatte. Der Mann drehte den Gästen den Rücken zu und
starrte,
obwohl es bereits dämmerte und draußen nicht wirklich
etwas
zu sehen war, stoisch aus dem Fenster in Bendines Garten.
Zu
seinen Füßen schlief ein Border Collie.
»Das ist Willi«, sagte Fenja. »Ich glaube, mit
Nachnamen
heißt er Forst oder so. Der ist ziemlich eigen, verbringt
die
meiste Zeit auf seinem Boot auf der Harle.«
»Scheint nicht viel Wert auf Unterhaltung zu legen.«
»Stimmt, er ist wortkarg und mag nicht angesprochen
werden.«
»Wieso geht er dann auf eine Geburtstagsfeier?«
Fenja betrachtete den alten Mann eine Weile versonnen.
»Weil er und Bendine sich mögen. Wieso, weiß ich nicht,
aber
irgendetwas verbindet die beiden.«
In diesem Moment wurde es an einem der Tische laut.
Ein
Mann war aufgesprungen und drohte seinem Gegenüber
mit
der Faust.
»Du warst doch schon immer die blödeste Petze von
ganz
Friesland und wahrscheinlich noch drüber hinaus!«
Der Border Collie war aufgewacht und beteiligte sich
mit
fröhlichem Gebell an der Auseinandersetzung. Endlich
passierte
mal was.
»Was ist denn da los?«, fragte Ahlers.
»Das ist Martin Holzer, unser Nachbar. Der ist
eigentlich
ganz friedlich, aber wahrscheinlich hat Otto Lohmann, das
ist
der andere Typ, auch ein Nachbar, mal wieder was zu
meckern
gehabt.«
Fenja erhob sich langsam, sie würde es nicht dulden,
dass
hier jemand Bendines Geburtstagsparty sprengte, aber
ihre
Mutter war bereits zur Stelle und klopfte Holzer
begütigend
auf die Schulter. Die Gäste waren verstummt und
warteten
gespannt auf das, was der heutige Abend noch an Action für
sie
bereithalten würde. Willi Forst hatte seinen Hund mit
einem
kurzen Befehl zum Schweigen gebracht.
»Still, Bingo!« Der Hund gehorchte sofort und legte
sich
wieder hin.
Holzer schien sich langsam zu beruhigen, während
Lohmann,
sein Gegenüber, ihn grimmig ansah. Holzers Frau
Elvira,
eine resolute Endvierzigerin, zog ihren Gatten zurück
auf
seinen Stuhl. Das Gemurmel der Gäste hob erneut
an.
Fenja setzte sich ebenfalls wieder. »Bendine ist einfach
immer
zu gutmütig. Kein Mensch kann Otto Lohmann leiden,
aber ihr tut Irmi leid. Das ist seine Frau«, erklärte
Fenja. »Ich
würde ihm Hausverbot erteilen.«
»Aber wieso denn?«, fragte Ahlers, der neben Fenja
der
Einzige am Tisch war, der sich für den Streit interessiert
hatte.
Marlene und Bradford waren nur mit sich selbst
beschäftigt.
»Weil Martin Holzer recht hat. Lohmann
ist
eine Nervensäge!
Und wirklich die größte Petze, die man sich
vorstellen
kann. Er war früher Wachmann und spielt sich immer
und
überall als Möchtegern-Polizist auf. Zeigt jeden
Falschparker
an.« Sie nahm einen Schluck Bier. »Ich hab keine Ahnung,
wie
viele Anzeigen von ihm wir schon bearbeiten mussten.
Neulich
hat er doch tatsächlich zwei Touristen zur Schnecke
gemacht,
weil sie keine Tageskarte für den Strand hatten. Ich frage
dich,
was zum Teufel geht ihn das an?«
»Er sorgt eben für Ordnung«, schmunzelte Ahlers,
dem
es gefiel,
wenn Fenja wütend und er nicht der Grund dafür
war.
Fenja kniff die Augen zusammen. »Einmal ist doch
tatsächlich
eine Streife hier vorbeigekommen, weil ich die Fenster
von
meinem Käfer geputzt habe! Die Kollegen haben sich
wahnsinnig
amüsiert und es bei einer
Verwarnung
belassen.« Fenja
warf Lohmann einen wenig freundschaftlichen Blick zu.
»Guck nicht so böse«, feixte Ahlers, »sonst verklagt er
dich
noch wegen Bedrohung oder wie man das nennt.«
»Das soll er sich mal trauen.«
»Ich hab Hunger, es sind noch Frikadellen da, willst du
auch
eine?« Ahlers war aufgestanden.
»Ja, mit Kartoffelsalat.«
Marlene und Bradford hatten offenbar keinen Hunger.
Marlene
hatte den Kopf an Bradfords Schulter gelegt, während
er mit ihren weizenblonden Haaren spielte und neugierig
die
Geburtstagsgäste beobachtete.
Wie das alles wohl auf ihn wirken mochte, überlegte
Fenja.
Immerhin verstand er ja so gut wie nichts. Willi Forst
schien
ihn besonders zu interessieren.
»Was denkst du?«, fragte Fenja auf Englisch.
Bradford lächelte. »Kann es sein, dass der Hund
Bingo
heißt?«
Fenja war zunächst verblüfft über die Frage, doch
dann
lachte sie. »Stimmt, so heißt er. Du hast nicht etwa
gedacht,
der Mann will Bingo spielen, oder?« Bradford konnte ja
nicht
wissen, dass Bingospielen in Deutschland nicht annähernd
so
populär war wie in seiner britischen Heimat.
Bradford zuckte mit den Schultern. »Seltsamer Name
für
einen Hund.«
»In England vielleicht«, sagte Fenja und nahm den
randvoll
mit Kartoffelsalat und zwei Frikadellen gefüllten Teller,
den
Ahlers ihr hinhielt, entgegen. »Das kann ich nie im Leben
aufessen.«
»Kein Problem, den Rest schaffe ich dann schon, der
Abend
ist ja noch jung«, erwiderte Ahlers und wies mit seinem
Kinn
zum Tresen, wo Edgar die Schüssel auskratzte. »Ich
musste
retten, was zu retten war.
«Marlene
hatte die ganze Zeit schweigend an Bradford
gelehnt
dagesessen. Jetzt hob sie den Kopf und fuhr Bradford
durch die Haare.
»Das ist ja süß.« Sie warf Fenja einen amüsierten Blick
zu.
»Stell dir vor, wir können ganz ungeniert über ihn reden.
Er
versteht gar nichts.«
»Bist du dir da so sicher?«, fragte Fenja
kauend.
»Etwa doch?« Marlene sah Bradford unsicher an, aber
seine
Miene war unergründlich.
»Wo ist eigentlich Nele?«, fragte Ahlers, nachdem er
sich
einen Happen Frikadelle in den Mund geschoben hatte.
»Bei ihrer Freundin Elsie. Die hat nämlich auch
Geburtstag.
Elsies Mutter hat eine Spielenacht organisiert.«
»Oh Gott.« Ahlers stöhnte. »Wieso tun die Mütter sich
so
was an?«
Das wusste Fenja auch nicht. Wenn Nele Geburtstag
hatte,
war Fenja meistens zur Stelle, um Bendine im Kampf
gegen
eine durch exzessiven Zuckerkonsum energiegeladene
Horde
von Jungen und Mädchen zu unterstützen. Wenn die Gäste
sich
dann am frühen Abend endlich verabschiedeten,
hinterließen
sie einen Abendbrottisch, den man nicht anfassen konnte,
weil
man daran kleben blieb, und einen mit Wachsflecken,
Donutresten,
abgebissenen Würstchenhälften, Konfetti, zerfetzten
Girlanden und Apfelsaftpfützen verdreckten Fußboden,
auf
dem man sich nur in Zeitlupe bewegen konnte, um nicht
auf
dem Hosenboden zu landen. Während Fenja und Bendine
dann
mit vereinten Kräften Ordnung schafften, sprang Nele
noch
immer wie ein aufgeregtes Eichhörnchen durch die
Wohnung.
Ahlers hatte zwar keine eigenen Kinder, aber er wusste,
was
es bedeutete, eine Meute Halbwüchsiger zu
beaufsichtigen.
Er unterrichtete an der Gesamtschule in Wittmund Sport
und
Mathe. Vielleicht war Elsies Mutter gar nicht so dumm,
wenn
sie die Geburtstagsparty ihrer siebenjährigen Tochter in
die
Nacht verlegte, dachte Fenja. Womöglich hielt die Horde
dann
nicht so lange durch. Fenja nahm sich vor, diese Option
auf
jeden Fall mit Bendine zu erörtern.
Der Abend sickerte dahin, manche Gäste wurden leiser,
die
meisten jedoch lauter und fröhlicher. Fenja vermutete, dass
es
daran lag, dass Otto Lohmann, die alte Petze, sich bereits
vom
Acker gemacht hatte. Irmi, seine Frau, hatte sich schon
kurz
nach dem Streit, den ihr Mann vom Zaun gebrochen
hatte,
verabschiedet, was ja kein Wunder war, fand Fenja. Otto,
die
Petze, war einfach ein Stimmungskiller.
Den Platz der beiden Lohmanns hatten nun Rainer und
Sigrid
Buchner eingenommen. Buchners waren Gäste aus
Münster,
die zum ersten Mal ihre Ferien in Ostfriesland
verbrachten.
Beide waren Ende fünfzig, still und genügsam. Mit
anderen
Worten, die perfekten Gäste für eine viel beschäftigte
Wirtin.
Bendine verstand sich prächtig mit ihnen und hatte sie
spontan
zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladen. Sie schienen sich gut
zu
unterhalten.
Bendines Freundin Lore Berglin und ihr Mann Kalle
waren
ebenfalls bester Laune. Vor allem Kalle klopfte sich
auf
die Schenkel und lachte lauthals. Willi Forst hatte den
ganzen
Abend mit kaum jemandem geredet. Er hatte sich auf
einen
einsamen Hocker gesetzt, vor sich hin gestarrt und sich in
regelmäßigen
Abständen mit einer neuen Flasche Jever versorgt.
Irgendwann nach Mitternacht war Bingo, sein Hund,
plötzlich
in Bendines Garten verschwunden und bellte dort nun
halb
Carolinensiel zusammen.
»Willi, tu was, dein Hund jagt wieder die Katze«,
mahnte
Bendine, »und außerdem hetzt uns der olle Lohmann noch
die
Polizei auf den Hals wegen Ruhestörung.«
Willi stand auf und wankte in die Küche, von dort ging
eine
Tür hinaus zur Terrasse und in den Garten. Sein
durchdringender
Pfiff
holte nicht nur seinen Hund zurück ins Haus,
sondern hatte bestimmt auch Otto die Petze aus dem Bett
geworfen.
Fenja fragte sich jetzt schon, wen Otto dafür wieder
anzeigen würde. Bendine oder Willi?
Dann verabschiedete sich Willi von Bendine, indem er
sie
eine Weile finster
ansah, woraufhin sie ihm schweigend zunickte.
Das war genug der Zuwendung für Willi. Er drehte
sich um und ging, sein Hund folgte ihm auf dem
Fuß.
Wenig später waren auch Marlene und Bradford
verschwunden.
Fenja und Barne Ahlers saßen noch mit Fenjas Mutter
zusammen, die den Freund ihrer Tochter einem
gründlichen
Verhör unterzog, das mit der Frage endete, ob die beiden
nicht
mal irgendwann heiraten wollten.
»So eine Hochzeit macht doch Spaß!«, lieferte sie als
Begründung,
woraufhin Fenja sich für eine Weile mit einer
Flasche
Jever aufs Klo zurückzog.
Als sie gegen halb zwei zurückkam – sie musste wohl
eingeschlafen
sein – war die Gästerunde noch mal beträchtlich
geschrumpft. Nur Buchners sprachen noch mit Bendine,
die
bestimmt todmüde war, und der allgegenwärtige Edgar
saß
mit einer Flasche Baileys in der Hand bei Ahlers, in dem
er
offensichtlich einen Leidensgenossen vermutete. Edgar
war
nämlich Berufsschullehrer.
Fenjas Mutter räumte auf und klapperte unanständig
laut
mit dem Geschirr. Ein Zeichen für die Gäste, endlich
aufzubrechen.
Ahlers warf Fenja einen hilfesuchenden Blick zu, aber
die machte auf dem Absatz kehrt, um ihrer Mutter beim
Geschirrklappern
zu helfen. Die Buchners verstanden und gingen
in ihr Apartment. Ahlers stand ebenfalls auf und stellte ein
paar
Teller zusammen. Edgar goss sich noch einen Baileys ein
und
griff seufzend nach seinem Handy.
Als alle Essensreste im Kühlschrank verstaut waren,
sagten
auch die anderen einander Gute Nacht.
»Mach das Licht aus, wenn du gehst, Edgar«,
erinnerte
Bendine ihn und zog sich dann mit leichter Besorgnis um
den
Inhalt ihres Kühlschranks ebenfalls zurück.
ZWEI
Sonntagmorgen. Die Bewohner von Carolinensiel lagen in
tiefem Schlaf. Das Wasser der Harle dümpelte friedlich
und
still Richtung Nordsee. Über dem östlichen Horizont
lugte
vor einem klaren Himmel eine strahlende Sonne hervor.
Alles
sprach für einen dieser heißen Sommertage, die Fenja so
liebte.
Das Dorf ruhte. Oder?
Fenja schlug unter einer steilen Stirnfalte die Augen auf.
Das
Licht blendete sie. Irgendetwas hatte sie geweckt. Sie
wusste
nicht, was es war. Ein Geräusch, ein unangenehmes,
störendes
Geräusch, das sie nicht ignorieren konnte. Sie lauschte.
Jemand
schluchzte. Eine Frau.
Fenja richtete sich auf und blickte zum Fenster, das
zum
Garten ging. Wie spät war es? Kurz nach sechs! Neben
ihr
röchelte es. Barne Ahlers warf sich auf die andere Seite
und
strampelte die Bettdecke weg. Das Schluchzen ging in ein
leises
Jammern über. Jemand rief nach Bendine.
Fenja sprang aus dem Bett, stolperte zum Fenster, öffnete
es
und warf einen Blick in den Garten. Sie bewohnte den
ersten
Stock, unter ihrem Fenster stand Irmi Lohmann und
blickte
zu ihr hinauf. Sie trug einen grauen Morgenmantel, ihr
graues,
dünnes Haar umgab ihren Kopf wie Spinnweben. Sie rang
die
Hände.
»Irmi, was machst du denn da?« Fenja zuckte vor
ihrer
eigenen lauten Stimme zurück. Irmi legte die Hände an
ihre
Wangen, stöhnte und wies mit der Hand in Richtung
Bendines
Rosenbusch.
»Ja, was denn?«
Fenja wurde ungeduldig. Irmi atmete schwer und trat
von
einem Fuß auf den anderen.
»Da, da ist Otto«, sagte sie leise, »ich glaube, er ist
tot.«
Dann brach sie in Tränen aus.
»Was ist denn hier los?« Ahlers war neben sie getreten.
Er
war nackt, was Fenja für einen Moment von Irmi
ablenkte.
Aber nicht lange.
»Hast du gesagt, Otto ist tot?«, vergewisserte sich
Fenja.
»Er liegt da im Rosenbusch«, wimmerte Irmi.
Fenja und Ahlers warfen sich einen verwunderten Blick
zu.
Fenja fing
sich.
»Ich komme runter.«
»Ich komme mit«, sagte Ahlers.
Fünf Minuten später standen die drei vor Bendines
Rosenbusch.
Der Duft der lachsfarbenen, üppig blühenden
David-Austin-Rosen
war berauschend. Bendines Rosenbeete waren
in Carolinensiel ein echter Hingucker, wiesen aber
leider
an diesem sommerlichen Sonntagmorgen einen eklatanten
Schönheitsfehler auf. Unter einem der höher
gewachsenen
Stämme lag, halb verborgen, Otto Lohmann, die Petze. Er
lag
auf dem Bauch, den Kopf zur Seite, eine Hand hatte sich
im
Busch verfangen, sie war an den Dornen hängen geblieben.
So
als ob er versucht hätte, sich festzuhalten. Die Augen
waren
geöffnet.
Er war zweifellos tot. Fenja schluckte.
»Ich rufe dann mal den Notarzt«, sagte Ahlers und
ging
durch die Küchentür wieder ins Haus.
»Wird nicht nötig sein, aber mach ruhig«, murmelte
Fenja
vor sich hin.
In diesem Moment kam Bendine aus dem Haus. Sie hatte
in aller Eile ihr Geburtstagsoutfit
vom gestrigen Abend angezogen,
was für diesen schockierenden Umstand ein bisschen
zu feierlich war. Aber das war ja irgendwie jetzt auch
egal,
fand Fenja. Sie erwachte aus ihrer Starre und schob die
beiden
Frauen ins Haus zurück.
»Du machst am besten eine starke Tasse Tee, Bendine.
Irmi
hat einen Schock. Wir warten, bis der Notarzt
kommt.«
Bendine legte ihren Arm um ihre schluchzende Nachbarin
und führte sie in ihre Küche.
»Was ist denn eigentlich los?«, fragte sie, während sie
den
Wasserkessel füllte. »Ist Otto gestürzt oder was?«
»Keine Ahnung«, sagte Fenja, die sich neben die
schlotternde
Irmi auf die Küchenbank setzte. »Wo ist dein Bruder,
weiß Alfons Bescheid?« Fenja wunderte sich, dass Irmis
Bruder,
Alfons Wecker aus Lüneburg, der, seit ihn seine Frau
vor
drei Wochen hinausgeworfen hatte, bei Irmi und Otto
wohnte,
sich nicht blicken ließ.
»Alfons ist heute Morgen ganz früh zum Angeln
gefahren«,
schluchzte Irmi.
»Gib mir seine Handynummer.«
Irmi hielt sich ihr Taschentuch unter die Nase und
schüttelte
den Kopf. »Das hab ich schon versucht. Er macht es doch
beim
Angeln auch immer aus.«
Ahlers betrat die Küche und steckte sein Handy weg.
»Sie
sind unterwegs.«
Fenja nickte nur. Die Sonne goss warme Strahlen durchs
Küchenfenster, was Fenja ebenfalls unpassend
fand.
Eine halbe Stunde später stand fest, dass Otto
Lohmann
wahrscheinlich weder an einem Schlaganfall noch an
einem
Herzinfarkt gestorben war. Er hatte eine klaffende Wunde
an
der linken Kopfseite, deren Herkunft sich niemand
erklären
konnte. Jedenfalls war er nicht auf einen Stein gestürzt,
denn
es gab im Umkreis der Leiche keinen, der bei einem Sturz
eine
derartige Wunde hätte hervorrufen können. Der Boden,
auf
dem sein Kopf gelegen hatte, war blutgetränkt. Fenja rief
also
zur Sicherheit ihre Kollegen von der Kripo in Wittmund
an.
Die Spurensicherung rückte an und Manfred
Friedrichsen,
der Rechtsmediziner. Alles gute Bekannte von Fenja, mit
denen
sie normalerweise zusammenarbeitete. Aber abgesehen
davon, dass sie Urlaub hatte, gehörte sie dieses Mal nicht
zu
den Ermittlern, sondern zu den Zeugen; um genau zu
sein,
sogar zum möglichen Täterkreis. Ein seltsames Gefühl, an
das
sie sich erst noch gewöhnen musste.
Mittlerweile hatten sich die meisten Bewohner der
Pension
im Frühstücksraum eingefunden. Vor Bendines Haus
versammelten
sich die ersten Nachbarn und andere Neugierige.
Fenja
und ihre Mutter bereiteten das Frühstück für die Gäste
zu, und
Fenja stellte alles, was sich noch im Kühlschrank befand,
aufs
Büfett.
Währenddessen saß Bendine verwirrt und traurig mit
Irmi
Lohmann in der Küche. Mark Bradford war ebenfalls
aufgestanden,
während Marlene noch schlief. Fenja hatte ihm
erklärt,
was passiert war, und er hatte nur schweigend genickt
und sich mit einem seltsam verwunderten Blick, die
Hände
in den Hosentaschen vergraben, an Bendines
Küchenfenster
gestellt. Fenja fragte sich, was in seinem Kopf
vorging.
Dann trafen ihre Kollegen von der Kripo in Wittmund
ein:
Oberkommissar Geert Frenzen und Kommissarin Gesa
Münte. Fenja stöhnte innerlich, hatte aber im Grunde
nichts
anderes erwartet.
Normalerweise leitete Fenja selbst die Ermittlungen
bei
ungeklärten Todesfällen im Zuständigkeitsbereich der
Kripo
Wittmund, und dazu gehörte Carolinensiel. Doch eine
Leiche
im Garten ihrer Tante, noch dazu eine mit einem
verdächtigen
Loch im Kopf, änderte die Zuständigkeiten. Das waren
nicht
unbedingt gute Neuigkeiten.
Gesa Münte war eine kluge und umsichtige Ermittlerin,
was
auf den selbstverliebten Geert Frenzen, Fenjas
Stellvertreter,
nicht unbedingt zutraf. Die Art, wie Frenzen sich jetzt in
Bendines
Frühstücksraum breitmachte und den Chef rauskehrte,
bestätigte Fenjas Befürchtungen. Er würde jeden der
Geburtstagsgäste
wie einen potenziellen Täter behandeln. Bendine, die
reglos an dem kleinen Tresen lehnte und starr vor sich
hin
blickte, standen schwierige Stunden bevor.
»So, Herrschaften«, Frenzen hielt seinen Ausweis hoch
und
drehte sich einmal im Kreis, »mein Name ist Frenzen,
Kripo
Wittmund, das ist meine Kollegin Münte.«Fenja
verdrehte die Augen und warf zuerst Ahlers und dann
Bradford einen Blick zu. Während Ahlers Frenzen
fasziniert
beobachtete, lächelte der Inspector hintergründig. Er
stand
jetzt lässig am Fenster und sah einfach unverschämt gut
aus.