Prolog
Ihre Zähne schlugen aufeinander. Sie lag im dichten Gras
und
sah sich suchend um. Sie musste still sein, ganz still.
Aber sie
schlotterte so. Ob er das hören konnte? Es war dunkel,
von
irgendwoher leuchtete es schwach. Das Gras unter ihren
Armen
war kalt und nass. Ihre Beine fühlte sie nicht. Langsam
rutschte
sie von dem Gras weg.
Erst jetzt bemerkte sie, dass sie halb im Wasser lag.
Reflexartig
griff sie nach den Grashalmen, doch sie konnte nicht
richtig zufassen,
denn ihre Hände waren zusammengebunden. Sie
rutschte
immer tiefer, bis das Wasser über ihrem Kopf
zusammenschlug.
Von Panik ergriffen versuchte sie, wieder an die
Oberfläche zu
gelangen, schlug mit ihren zusammengebundenen Armen
umher
und strampelte mit den Beinen, bis sie wieder auftauchte
und
keuchend nach Luft rang. Sie erwischte etwas, das im
Wasser
trieb, und umklammerte es. Eine Planke.
Die Planke hielt sie notdürftig über Wasser. Eine Weile
verharrte
sie schwer atmend. Warum tat ihre Kehle so weh? Und
was baumelte da an ihrem Hals? Von irgendwoher hörte sie
eine
Stimme. Jemand schimpfte leise. Sonst war nichts zu
hören, nur
das Plätschern des Wassers.
Sie wollte schreien, aber die Kraft hatte sie verlassen.
Ein
Röcheln quälte sich aus ihrer Kehle, dem ein leiser
Schrei folgte,
eher ein Seufzen. Von Ferne drang ein Laut zu ihr
herüber.
Was war das noch? Sie wusste es nicht. Oder nicht mehr?
Aber
irgendwie war es auch egal, sie war so müde, wollte
schlafen.
Die Planke entglitt ihren Händen, und sie sank langsam
hinab
in die kühle Schwärze, die sie wie ein wohlwollender
Freund
umfing.
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Ostfriesland – Wittmund
Hauptkommissarin Fenja Ehlers ging die Flure des
Krankenhauses
Wittmund entlang und hielt sich unauffällig die Nase zu,
um
möglichst wenig von dem unangenehmen
Krankenhausgeruch
wahrzunehmen. Es war früher Abend, das Geschirr vom
Abendessen
war bereits abgeräumt, und einige Patienten
dämmerten
wohl schon im Halbschlaf einer Nacht entgegen, die früh
am
nächsten Morgen enden würde. Ihre forschen Schritte
hallten
durch die Gänge. Vielleicht hätte sie ihre Sneakers
anziehen sollen,
dachte sie noch, bevor sie sachte an eine Tür klopfte
und,
ohne eine Antwort abzuwarten, eintrat.
Drinnen saß an einem Einzelbett eine Frau in den
Vierzigern.
Ihr stumpfes dunkelblondes Haar war zerzaust, und vorn
auf ihrem
weißen T‑Shirt prangte ein blassrosa Fleck. Wohl ein
Überbleibsel
von Tomatensoße, das die Trägerin halbherzig versucht
hatte
herauszuwaschen. Dafür hatte Fenja Verständnis, ihre
Kleidung
wies ständig Rückstände von ausgewaschenen Flecken
auf. Die
Frau starrte Fenja aus großen, umschatteten Augen
erwartungsvoll
an.
»Gibt es Neuigkeiten?«, fragte sie heiser.
Fenja Ehlers schüttelte den Kopf. »Nein, leider
nicht.«
Sie stellte sich an den Rand des Bettes und betrachtete
das
blasse, von einem Kranz dunkler Haare umgebene Gesicht
des
jungen Mädchens, das bewegungslos auf dem Kissen lag.
Die
Augen waren geschlossen, der Atem ging ruhig und
gleichmäßig.
Mit ihren kaum sechzehn Jahren machte Greta Werft den
Eindruck
eines friedlich schlafenden Kindes. Doch der Schein
trog.
Die Mutter hielt die kleine Hand fest umklammert
und
drückte sie an ihre Wange. »Die Ärzte wissen nicht, ob
sie die
alte sein wird, wenn sie wieder aufwacht, aber sie hoffen
es.«
»Sie wird schon wieder«, antwortete Fenja. »Ärzte
halten sich
in ihren Prognosen immer ein Hintertürchen offen, damit
man
sie nicht festnageln kann, falls es anders kommt als
gedacht.«
Fenja war sich ihrer Sache keineswegs so sicher, wie es
den
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Anschein hatte, aber sie hatte das Bedürfnis, der Mutter
Mut zu
machen. Und was sprach dagegen, sich an Strohhalme zu
klammern,
wenn man sonst nichts hatte zum Klammern? Außerdem
wollte sie selbst daran glauben, dass alles gut werden
würde. Und
wenn sie etwas wollte …
»Ich werde auf jeden Fall hierbleiben und warten. Sie
darf
unter keinen Umständen allein sein, wenn sie aufwacht«,
sagte
die Frau leise.
»Ja, da haben Sie sicher recht.« Fenja streichelte
sanft die Wange
des Mädchens und gab der Mutter einen aufmunternden
Klaps
auf den Rücken. »Haben Sie jemanden, der Sie
ablöst?«
»Ja, meine Schwester ist unterwegs, sie wohnt in
Hannover.
Wir werden uns abwechseln.«
»Das ist gut, ein vertrautes Gesicht ist wichtig. Wenn
sie aufwacht,
rufen Sie mich gleich an. Sie haben ja meine
Nummer.«
Britta Werft nickte stumm, ohne den Blick vom Gesicht
ihrer
Tochter zu nehmen.
Fenja, die die Tür bereits geöffnet hatte, drehte sich
noch mal
um. »Und … keine Bange, wir kriegen den. Ich werde
dafür
sorgen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.«
Britta Werft sandte der Hauptkommissarin einen
zweifelnden
Blick nach.
Wenige Minuten später bestieg Fenja ihren alten
VW‑Käfer und
knatterte nach Carolinensiel, um sich nach diesem
anstrengenden
Tag von ihrer Tante Bendine verwöhnen zu lassen. Ein
Krabbenbrötchen
zu essen und mindestens einen Becher heißen,
starken
Tee zu trinken.
Der Himmel war wolkenverhangen, und der Wind blies
kräftig, wie meistens hier in Ostfriesland. Sie hatte
Mühe, ihren
ehrwürdigen Oldtimer in der Spur zu halten, und
drosselte die
Geschwindigkeit etwas. Schnell war das Gefährt ohnehin
nicht,
auch wenn Fenja des Öfteren die Gäule durchgingen und
sie den
Gang so heftig einwarf, dass der Wagen kreischend
protestierte.
Aber ihr grüner Freund mit dem schwarzen Stoffverdeck
war
nicht nachtragend und tuckerte geduldig weiter die B 461
entlang,
bis nach Carolinensiel zur kleinen Pension ihrer
Tante.
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Sie lenkte den Wagen um das Haus herum zur Garage, die
sie
bei Ihrer Ankunft vor zwei Jahren erst vom Gerümpel
jahrzehnte-
langer Zweckentfremdung hatte befreien müssen, bevor sie
sie
ihrem grünen Kumpel als Heimstatt hatte zumuten können.
Und
der Käfer schien zufrieden zu sein mit seiner
Unterkunft, denn
er schnurrte, seit Fenja hier wohnte, störungsfrei die
Straßen
Ostfrieslands entlang. Eine längere Reise, wie die vor
vier Jahren
nach Italien, hatte sie ihm seitdem nicht wieder zumuten
wollen.
Er hatte danach ein bisschen gehustet, hatte ihr wohl die
Fahrt
über den Gotthard übel genommen.
Fenja schloss sorgfältig die Garagentür ab.
Carolinensiel war
zwar nicht gerade eine Hochburg für Autodiebe, aber man
konnte
nie wissen. Sie ging noch eine Minute in Bendines Garten.
Dank
der vergangenen warmen Frühlingstage fingen die Rosen
bereits
jetzt, Ende Mai, an zu blühen und überwucherten den
Gartenzaun.
Wenn sie in wenigen Wochen alle in voller Blüte
standen,
würden die Touristen wieder stehen bleiben, um den
Garten
zu fotografieren und diese Farbenpracht mit nach Hause in
ihre
Stadtwohnung zu nehmen.
Was Fenja besonders mochte an diesem Garten, war,
dass
Bendine die Natur wachsen ließ, bevor sie sich mit
lenkender
Hand ein wenig in ihr Treiben einmischte. Jede Staude
hatte
ihr Plätzchen an der Sonne, und Bendine sorgte mit
fröhlicher
Gelassenheit dafür, dass das so blieb. Stutzte
Kirschlorbeer und
Buchsbaum, wenn sie sich vordrängelten, und ließ sie
ansonsten
wachsen, wie es ihnen gefiel. In Bendines Garten konnte
man
auf Entdeckungsreise gehen.
Fenja fragte sich oft, welche Rückschlüsse der Zustand
eines
Gartens auf das Wesen des Gärtners zuließ und ob es im
Leben
mancher Menschen genauso geordnet zuging, wie es die
sauberen
Beete und kunstvoll modellierten Buchsbaumhecken vor
ihren
Häusern glauben machen wollten. Wo blieb die Neugier auf
das,
was sich da ohne menschliches Zutun aussäte und
heranwuchs? War
auch der Alltag leichter zu ertragen, wenn man ihn
kontrollierte
wie die Pflanzen im Garten? Ihn ordnete, plante und glatt
bügelte,
bevor sich Vielfalt oder gar Unordnung entwickeln
konnten?
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Fenja ging in die Küche, wo ihre Tante damit
beschäftigt war,
Kluntjes in kleine Kristallschälchen zu füllen und
diese anschließend
auf den Frühstückstischen zu verteilen. Die großen
Touristenmassen
ließen zwar noch auf sich warten, es war ja erst
Ende
Mai, aber einige ihrer Stammgäste aus Hannover und
Bremen
hatten das warme Wetter der letzten zwei Wochen schon
zum
Wandern und Radfahren genutzt.
»Dinnie!«, rief Fenja, als sie die Küche betrat, die
Schlüssel in
den alten Küchenschrank legte und ihre Jacke auf den
nächstbesten
Stuhl warf. »Gibt’s Tee?«
Bendine Hinrichs betrat die Küche und kniff ihrer Nichte
in
die Wange. »Auf dem Flur ist eine Garderobe, hab ich dir
doch
schon hundert Mal gesagt.«
»Ja, ich weiß«, antwortete Fenja und ließ sich auf
die Küchenbank
fallen. »Das war ein Tag.«
Ihre Tante brachte die Jacke in den Flur und stellte
Fenja einen
Becher mit knisterndem Tee hin, den sie mit einem Kluntje
und
einem Löffel Sahne gefüttert hatte.
Fenja nahm mit geschlossenen Augen einen Schluck und
ließ
sich dann seufzend zurückfallen.
»Wo ist Nele?«
»Übernachtet heute bei Elsie.«
Nele war gerade sechs Jahre alt geworden und der
ganze
Sonnenschein ihrer Großmutter, die sie aufzog. Neles
Mutter,
Fenjas Cousine Stella – der Name war Fenjas Großmutter
zeit
ihres Lebens ein Dorn im Ohr gewesen –, war bei der
Geburt
des Kindes gestorben. Niemand hatte gewusst, dass Stella
seit
ihrer Geburt einen Herzfehler gehabt hatte, der sie dann
mit nur
achtundzwanzig Jahren das Leben kostete.
Bendine wollte anfangs nichts von dem Kind wissen,
immerhin
hatte es ihr die einzige Tochter genommen, und Stella
hatte den
Namen des Vaters nie preisgegeben. »Lasst mich in Ruhe.
Ich will
das Kind für mich allein, der Vater würde es mir nur
wegnehmen
wollen.«
Also hatte Fenjas Mutter, die fast zehn Jahre älter war
als ihre
Schwester Bendine, die kleine Nele zunächst zu sich
genommen.
Damals lebte Fenjas Vater noch, aber als er keine vier
Monate nach
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Neles Geburt einem Herzinfarkt erlag, fühlte sich ihre
Mutter
nicht mehr in der Lage, sich um ihre kleine Nichte zu
kümmern.
Fenja hatte das Kind genommen, war mit ihm zu
Bendine
gefahren und war ein paar Tage geblieben. Genauso lange
hatte
es gedauert, bis die Kleine Bendines Herz erobert hatte.
Und
so hatte sich alles gefügt. Nele blieb bei ihrer
Großmutter und
entwickelte sich prächtig.
»Wie geht’s dem Mädchen?«, fragte Bendine und
rückte ihre
Brille gerade.
»Unverändert.«
»Meine Güte.« Bendine ließ sich ächzend auf einen
Stuhl
sinken und legte ihre Unterarme und ihren ausladenden
Busen
auf den Tisch. »So was hat’s hier an der Küste noch
nie gegeben,
jedenfalls nicht dass ich wüsste.«
Fenja konnte da nicht mitreden, denn sie lebte erst seit
zwei
Jahren hier. Dabei war das kleine Apartment bei Tante
Bendine
ursprünglich nur als Übergangslösung gedacht gewesen,
Fenja
hatte vorgehabt, sich eine Wohnung in Wittmund zu
suchen.
Aber sie musste sich eingestehen, dass es äußerst
praktisch war, in
einer Pension zu wohnen, wo eine liebende Tante dafür
sorgte,
dass der Kühlschrank gefüllt war, man immer saubere
Bettwäsche
zur Verfügung hatte und der Wohnort zu einem der
schönsten
im ganzen Land zählte. Jedenfalls sah Fenja das so. Und
die
Touristen, die im Sommer Carolinensiel heimsuchten und
das
Fischerdorf damit zu einem blühenden Ferienort machten,
wohl
auch.
Und nun hatte sie in einem dieser scheußlichen Fälle zu
ermitteln,
die sie in ihren Träumen heimsuchten. Obwohl Fenja
einiges
gewohnt war, denn sie war mehrere Jahre Oberkommissarin
in
Hamburg gewesen, und dort durfte man nicht gerade
zimperlich
sein. Aber sie hatte sich mit ihrem Chef angelegt,
nachdem sie
mit ihm ins Bett gestiegen war.
Ein blöder Fehler, aber sie war selbst schuld. Dummheit
wurde
immer bestraft. Das hatte sie bereits während ihrer
kurzen, aber
stürmischen Ehe mit ihrem Sternekoch erfahren müssen,
für
den Polygamie wohl so etwas wie ein soziales
Hilfsprogramm
für alleinstehende Frauen bedeutete. Blöderweise hatte
sie nichts
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daraus gelernt und später den Beteuerungen ihres
verheirateten
Chefs geglaubt, seine Ehe bestünde nur noch auf dem
Papier.
Kaum zu glauben, wie naiv sie gewesen war. Seitdem
kochte
ihr Liebesleben auf Sparflamme. Bis auf einen
Urlaubsflirt, den
sie sich im letzten Jahr in Südfrankreich geleistet
hatte, war sie
vorsichtig geworden, was Männer anbelangte. Immerhin,
man
hatte sie befördert und aufs Land geschickt, wo sie die
Leitung
eines Ermittlerteams übernehmen sollte. Anfangs hatte
sie gehadert
und wollte möglichst schnell wieder weg. Nach
Hannover
vielleicht oder Frankfurt. Auf jeden Fall in eine
Großstadt, wo
auch mal was passierte. Hier war die Polizei ja fast
überflüssig,
wenn man mal von gelegentlichen Diebstählen absah und
den
Schlägereien zwischen Betrunkenen, die sich vor allem im
Winter
ereigneten, wenn die Einheimischen wieder unter sich
waren.
Aber wie auch immer, sie war hier und würde das Beste
daraus
machen.
Es klopfte, und Heini Sammers, Bendines Verehrer, betrat
die
Küche.
»Moin«, grüßte er mit einem scheelen Blick auf Fenja,
die
Heini nicht mochte.
Sie hatte nicht wirklich einen Grund dafür, außer, dass
ihr sein
Blick nicht gefiel. Sie fand, er guckte immer so devot.
Zu devot,
und das war verdächtig, zumal sie das Gefühl hatte,
dass er diesen
Blick ganz nach Belieben aufsetzen konnte und das längst
nicht
bei jedem tat. Fenja argwöhnte, dass er es auf Bendines
Pension
abgesehen hatte. Er schien sich nämlich hier
außerordentlich
wohlzufühlen, wenn man von der Häufigkeit seiner
Besuche
ausging und der Art, wie er sich in der Küche
breitmachte, wenn
er sich unbeobachtet fühlte.
»Moin«, murmelte Fenja und nahm einen tiefen Schluck
aus
ihrem Teebecher.
»Kommst du?«, fragte Heini, und Fenja sah erst jetzt,
dass
der Besucher sich fein gemacht hatte. Heute trug er statt
seiner
schwarzen Jeans und dem Fischerhemd, das immer über
seinem
ausladenden Bauch spannte, eine abenteuerliche Kreation
aus
grüner Hose und fliederfarbenem Jackett. Fenja kniff die
Augen
zusammen.
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»So was sollte verboten werden, davon kriegt man ja Augen-
krebs«, murmelte sie halblaut und fing sich einen
strengen Blick
von ihrer Tante ein.
»Geh schon mal vor, Hein«, sagte Bendine
sicherheitshalber,
»ich komm gleich nach.«
Dann wandte sie sich an ihre Nichte. »Wieso bist du
immer
so zickig zu ihm? Der hat’s auch nicht leicht. Steht
den ganzen
Tag in seinem Kiosk und muss seiner Frau das ganze Geld
ab-
drücken.«
»Nicht seiner Frau, seinen Kindern. Wenn man fünf davon
in
die Welt setzt, muss man damit rechnen, dass das teuer
wird.«
»Trotzdem, er ist fleißig und freundlich, was hast du
bloß gegen
ihn?«
»Ich weiß auch nicht«, sagte Fenja und gähnte.
»Berufskrankheit,
er guckt mir zu vorsichtig. Gibt’s was zu
essen?«
Ihre Tante stand auf. »Ja, im Kühlschrank sind Krabben,
kannst
dir ja Rührei dazu machen. Ich muss jetzt los, Lore hat
Geburtstag
und macht ein gemeinsames Abendbrot mit ihrem
schnöseligen
Sohn und seiner Familie. Wir sollen kommen und ihr
helfen.«
»Bei der Vorbereitung?«
»Nein, bei dem Streit, den sie mit Sicherheit wieder mit
dieser
Trine von Schwiegertochter vom Zaun brechen wird.«
»Na, dann viel Spaß.«
Fenja trank ihren Tee aus und erhob sich, um den
Kühlschrank
zu plündern. Eigentlich hatte sie in ihrem Apartment
eine komplett
eingerichtete Küche, aber sie kochte lieber in Bendines.
Sie
mochte den wuchtigen Küchenschrank aus Kiefernholz und
die
alte viereckige Spüle vor dem Fenster, das zum Garten
ging. Auch
die regelmäßigen Treffen mit Fenjas Kochgruppe fanden
immer
in Bendines Küche statt. Bisher waren sie nur zu
viert.
Frieder, der einzige Mann in der Truppe, war damit
ziemlich
glücklich, aber seine Schwester Lotte und Marlene,
Fenjas Freundin
aus dem Fitnessclub, wurden nicht müde, sich um
männlichen
Zuwachs zu bemühen. Bisher allerdings ohne Erfolg.
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Die Dinge entwickelten sich nicht zu seinen Gunsten,
was
eigentlich unverständlich war. Seine Informationen waren
doch
zuverlässig gewesen. Aber er musste abwarten. Abwarten
und
Tee trinken, das konnte er, hatte er schon immer gekonnt.
Und
er musste einen Umschlag zur Post bringen. Es war ja kaum
zu
glauben, dass man heute noch Informationen auf Papier
austauschte,
aber damit ging er auf Nummer sicher, und Computern
gegenüber hatte er sich immer ein gesundes Misstrauen
bewahrt.
Das war auch nötig, er hatte einfach zu viel zu
verbergen. Aber
davon wusste niemand außer ihm selbst. Dieses Wissen war
exklusiv,
und das würde es auch bleiben, solange er auf der Hut
war.
Darin hatte er Übung, und bisher war es ihm immer
gelungen,
die Dinge zu seinem Vorteil zu manipulieren. Allerdings
war das
Gespräch, das er vorhin geführt hatte, nicht dazu
angetan, seinen
Optimismus zu stärken. Da musste etwas geschehen, und
wenn
das schiefging, war er am Arsch.
Und dann die Sache mit dem Mädchen. Anscheinend war
sie
noch am Leben. Da musste er am Ball bleiben. In der Harle
hatten
sie sie gefunden, wo sie sich an einem Stück Holz
festgeklammert
hatte, bevor sie versunken war und diese Frau sie
herausgezogen
hatte. Das hatten die Leute erzählt. Jetzt lag sie im
Koma. Ob sie
wieder aufwachen würde, war fraglich. Sonst wusste man
nichts.
Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, es war
kühl,
aber der Wind hatte etwas nachgelassen. Einige Touristen
waren
noch unterwegs. Vorwiegend ältere Menschen bummelten
nach
Harlesiel und wieder zurück. Das war unter normalen
Umständen
ein beliebter Verdauungsspaziergang und ein ruhiger
obendrein.
Im Moment allerdings konnte er einem auch auf den
Magen
schlagen, wenn man von sensiblem Gemüt war. Wenn
nicht,
ersparte man sich damit vielleicht den abendlichen
Krimi.
In der Nähe der Schleuse konnte man immer noch das
blauweiße
Absperrband der Polizei bestaunen und sich
anschließend
in der wohligen Sicherheit seiner vier Wände mit einem
steifen
Grog – der ging auch im Frühling – vor den Fernseher
setzen.
Er machte sich auf den Heimweg. Genau das würde er
jetzt
auch tun. Sich mit einem steifen Grog vor den Fernseher
setzen.
Hoffentlich ließen sie ihn in Ruhe. Und dann musste er
schnells-
15
tens diesen Brief aufgeben, und um die Sache mit dem
Mädchen
musste er sich auch noch kümmern.
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