Prolog
Was war denn bloß geschehen? Sie lag da, die nackten
Beine
seltsam verdreht. Auf den Fußnägeln schimmerten noch
Reste
von Nagellack. Rosa Nagellack, einfach scheußlich! Sie
trug einen
Morgenmantel. In der letzten Zeit hatte sie dauernd
diesen
Morgenmantel getragen. Alt war er, abgewetzt und
schmuddelig
weiß. Sie hatte sich gehen lassen, ohne Zweifel. Immer
wieder
war es deswegen zum Streit gekommen zwischen ihnen.
Und
dann das Kind. Ständig hatte es geschrien. Jetzt schrie
es auch.
Es war nicht auszuhalten! Dabei hatten sie nur über
alles reden
wollen, jetzt, wo er abgehauen war. Aber sie wollte sich
ja einfach
nicht überzeugen lassen! Stattdessen war sie furchtbar
wütend
geworden! Hatte geschrien und gedroht, alles zu sagen.
Und das
ging doch nicht! Das war ganz und gar unmöglich! Und
dann war
die ganze Situation völlig aus dem Ruder gelaufen.
Deswegen war
es geschehen! Nur deswegen lag sie jetzt da, den Kopf mit
den
dunklen Locken auf dem Teppich, während das Blut langsam
aus
ihr heraussickerte.
Aber vielleicht war es am besten so. Eine andere Lösung
war
eben unmöglich. Es war so vieles falsch gelaufen. Und
das mit dem
Kind hätte nicht sein dürfen. Das war einfach zu viel
gewesen! Ja,
bestimmt war es am besten so!
Draußen dunkelte es bereits. Es war zu gefährlich hier!
Weg!
Nichts wie weg! Bevor jemand etwas mitbekam. Durch die
Hintertür
und den Garten. Noch war Zeit, alles zu regeln. Es
musste
nur schnell gehen. Dann würde alles gut.
EINS
Carolinensiel, Ostfriesland, Dienstag, 7. Oktober
Heike Bornum ärgerte sich wie immer, dass sie nicht den
Mut
fand, dieses lästige Geschwätz zu unterbinden.
»Man bedenke die luzide Sprache, die komplexen
Satzgebilde
und die philosophische Abhandlung menschlicher
Unzulänglichkeiten
…«, drang es dumpf und träge wie klebriger Honig in
ihr
Bewusstsein, »… ganz zu schweigen von der
Mannigfaltigkeit der
Charaktere …«
»Ach, du immer mit deinem wissenschaftlichen Besteck.
Hier
geht’s um Gefühle!«
Heike seufzte innerlich. Wenigstens Bendine traute sich,
Knut
in die Parade zu fahren. Wieso musste der sich bloß
immer so
aufspielen? Okay, er war Deutschlehrer gewesen, in
Wittmund in
der Oberstufe, aber war das ein Grund, in diesem Kreis
ständig
die eigene Überlegenheit zu demonstrieren? Sie selbst
hatte vor
acht Jahren den Lesekreis in Carolinensiel ins Leben
gerufen.
Anfangs waren sie nur zu viert gewesen, und
ausschließlich
Frauen. Sie trafen sich jeden ersten Dienstag im Monat im
Groot
Hus des Sielhafenmuseums und sprachen über Literatur.
Manchmal
stellte eine von ihnen ein Buch vor, das ihr besonders
gefallen
hatte, manchmal wurde einfach nur vorgelesen. Sie hatte
weder
Zeit noch Mühen gescheut, um ihren Kreis zu erweitern.
Hatte
Lesungen veranstaltet und einmal sogar eine Art
literarisches
Quartett.
Das war der Köder für Knut gewesen. Mittlerweile war
ihr
Leseclub auf dreizehn Personen angewachsen, fünf davon
waren
Männer. Und dass Knut Besemer, der der Chance, sein
sprachwissenschaftliches
Know-how öffentlich präsentieren zu dürfen,
nicht hatte widerstehen können, sich dazugesellt hatte,
war für sie
eine besondere Freude gewesen. Heike hatte nun mal ein
Faible
für gebildete Männer. Und das war Knut ohne
Zweifel.
Seit ihrer Scheidung vor sechs Jahren und auch schon
lange davor
hatte Heike die Nähe und Fürsorge eines männlichen
Partners
vermisst. Und Knut war nicht nur gut aussehend und
gebildet, er
war auch noch wohlhabend. Sehr wohlhabend, nannte ein
großes
Haus und eine geräumige Yacht sein Eigen. Die hatte er
sich vor
ein paar Jahren gekauft, da war seine Frau schon eine
Weile tot.
Er hätte schon viel eher in Pension gehen können, hatte
er Heike
mal anvertraut. Das hatte er einigen klugen Transaktionen
an der
Börse zu verdanken.
Wie auch immer, Heike hatte nichts gegen Geld. Und
sie
selbst, als Bibliothekarin auch nicht ungebildet und für
ihr Alter
äußerlich noch recht annehmbar, würde wunderbar zu ihm
passen.
Silke Husemann sah das allerdings anders. Es war ja schon
fast
peinlich, wie die sich Knut an den Hals warf. Und ihm
gefiel das
offenbar. Er war ein eitler Pfau, das ließ sich nicht
leugnen. Aber
glücklicherweise hatten sich die Dinge mittlerweile
geändert. Sie
hatte jetzt noch ein weiteres Eisen im Feuer, auch wenn
das nur
die zweitbeste Lösung war und sie außerdem in
Schwierigkeiten
bringen konnte. Nun, das musste sie eben für sich
behalten.
»Ich finde, Knut hat recht«, sagte Lothar Semmler, »es
geht
beim Geschichtenerzählen nicht nur um den Inhalt der
Geschichte,
sondern auch um die Sprache, also das Mittel, mit
dem
ich diese Geschichte erzähle …«
»Ja, aber dann sollte man sich über die Sprache in
einer Sprache
unterhalten, die auch jeder versteht.« Lore Berglin
eilte ihrer
Freundin Bendine zu Hilfe. »Das solltest du auf jeden
Fall bedenken,
wenn du deinen Krimi unter die Leute bringen willst.
Dieses
hochgestochene Gedöns will ich jedenfalls nicht
lesen.«
»Natürlich«, stimmte Lothar Semmler eilfertig zu.
»Ich schreibe
so, dass mich alle verstehen.«
»Wollen wir’s hoffen«, brummte Else Tudorf. »Und
wehe, ich
komme in deinem Geschreibsel vor! Werde mir das ganz
genau
angucken, was du da verzapfst.«
»Mach das, mach das«, frohlockte Lothar Semmler, der
seinen
noch zu realisierenden Krimi bereits in den
Bestsellerlisten
wähnte. Allerdings hatte er seine umfangreiche Recherche
bis
dato noch nicht beendet, und der Plot war ebenfalls noch
nicht
in trockenen Tüchern. Das hinderte ihn allerdings nicht
daran,
alle Welt von seinen Plänen in Kenntnis zu setzen.
»Wir wollten doch über Jane Austen sprechen«, meldete
sich
Heike endlich zu Wort. Sie fand Lothars Pläne
pietätlos, und
noch pietätloser fand sie es, dass er sie in diesem
Kreis überhaupt
thematisierte.
Hilde Thomassen war blass geworden, als er sie darauf
angesprochen
hatte. »Du hast doch nichts dagegen … ich meine,
sie
war ja deine Tochter, aber die Psychologen sagen doch
immer, es
ist sinnvoll, über diese Dinge zu reden.«
»Ja, aber nicht mehr nach zwanzig Jahren!«, hatte Tomke
Drillich
Lothar zurechtgewiesen. Tomke und Hilde hatten
gemeinsam
den kleinen Boje, Hildes Enkel, großgezogen, nachdem
seine
Mutter unter tragischen Umständen ums Leben gekommen
war.
Boje war mittlerweile einundzwanzig Jahre alt und
studierte
Kommunikationswissenschaften in Bamberg. Er war der ganze
Stolz
seiner Großmutter. Die beiden hatten ein enges
Verhältnis, denn
sie hatten niemanden mehr außer einander.
»Du hast recht, Bendine«, sagte Heike jetzt etwas
lauter als
nötig, »hier geht es um Gefühle, wobei man natürlich
die geniale
Sprache von Jane Austen durchaus erwähnen darf.«
»Ja, sagt ja keiner was dagegen, aber ich finde die
Figuren
viel bemerkenswerter«, mischte sich Silke Husemann jetzt
ein,
während Wilko Reinert, der Silkes Enthusiasmus für
»Stolz und
Vorurteil« nicht teilte, die Augen verdrehte.
»Überlegt doch mal«, schwärmte Silke, »die Bennets
haben fünf
Töchter, und alle sind irgendwie … besonders.«
Heike hörte nicht mehr hin, sie war froh, die Gruppe von
Lothars
Krimiplänen abgelenkt zu haben. Nicht nur, weil sie
Hilde
die Erinnerung nicht zumuten wollte. Nein, sie wollte
auch sich
selbst die Erinnerung nicht zumuten, konnte nur hoffen,
dass
niemand ihre Zerstreutheit und ihre zitternden Hände
bemerkt
hatte, als Lothar davon angefangen hatte. Und das gerade
jetzt,
wo die Vergangenheit sie sowieso wieder eingeholt
hatte.
Vielleicht hätte sie das mit den schlafenden Hunden
nicht
erwähnen sollen. Nun ja, zu spät, sich darüber
Gedanken zu machen.
Das war allerdings leichter gesagt als getan. Heike
neigte
zum Grübeln. Sie beneidete die Menschen, die sich
rigoros von
einem Problem, das nicht zu ändern war, ablenken
konnten. Wie
machten sie das nur? In ihrem Kopf drehten sich die
Gedanken
wie in einem Karussell wieder und wieder um dieselbe
Angelegenheit,
ohne dass sie zu einer Lösung kommen würde.
Und in diesem Fall war es genauso gewesen. Damals. Sie
hatte
viele Jahre gelitten, litt immer noch, wenn sie ehrlich
war. Und
jetzt kam Lothar und wühlte im Schlamm herum. Gott
weiß, was
er alles ausgraben würde in seiner Besessenheit.
Sie plauderten noch eine Weile über die große
englische
Schriftstellerin, und dann beendete Heike den Abend,
etwas
früher als sonst. Sie hatte sich nicht mehr am Gespräch
beteiligt
und als Lektüre für das nächste Treffen Theodor
Fontanes »Effi
Briest« vorgeschlagen.
»Der schreibt doch genauso gefühlsduselig wie Jane
Austen«,
murrte Wilko Reinert. »Was findet ihr Frauen bloß an
der? Können
wir nicht mal was von Håkan Nesser oder Tess
Gerritsen
besprechen?«
Heike antwortete nicht, und die Clubmitglieder machten
sich
langsam auf den Heimweg. Das war um kurz vor
zweiundzwanzig
Uhr.
Bendine Hinrichs ließ sich von Heini Sammers noch bis zu
ihrer
Pension begleiten, die nicht weit vom Museumshafen
entfernt
Richtung Harlesiel in einem malerischen Garten lag.
Heini Sammers, ein stämmiger Friese, der sich selbst als
einen
Mann in den besten Jahren bezeichnete, obwohl er die
sechzig
bereits überschritten hatte, war unwesentlich kleiner
als seine zwei
Jahre jüngere Freundin Bendine. Aber vielleicht lag das
auch nur
an seinem stets etwas geneigten Kopf und seinem leicht
gebeugten
Gang. Der Wind wehte schwach an diesem milden Abend
im
Oktober. Die Sommergäste waren in ihre Stadtwohnungen
oder
ihre bergische Heimat zurückgekehrt, bis sie sich im
nächsten
Sommer wieder an die Küste begeben würden. Hierher, wo
der
Wind alle schweren Gedanken auf die weite See trieb.
Bendine
und Heini schlenderten im trüben Licht der Laternen an
der Harle
entlang.
»Dass du mir bloß nicht mit so einem Blödsinn
anfängst«,
knurrte Bendine. »Krimi schreiben! Als ob’s davon noch
nicht
genug gäbe. Man weiß ja schon gar nicht mehr, was man
kaufen
soll. Wenn man in einen Buchladen geht, wird man ja
regelrecht
erschlagen von dieser Büchermasse.«
»Nein, Bendine, ganz bestimmt nicht«, versicherte Heini
beflissen.
»Auf so einen blöden Gedanken würde ich nie kommen.
Und
außerdem hab ich ja auch gar keine Zeit, ich hab ja den
Kiosk.«
»Stimmt allerdings«, murmelte Bendine, die sich fragte,
wie
lange Heini sich an seiner Brötchentheke noch die Beine
in den
Bauch stehen wollte. Und im Winter lief das Geschäft
sowieso
schlecht. Glücklicherweise bezog Heini eine kleine
Unfallrente,
die ihm ein akzeptables, wenn auch nicht gerade
respektables
Auskommen sicherte. Außerdem verdienten seine fünf
Kinder
aus einer gescheiterten Ehe mittlerweile ihr eigenes
Geld.
»Heike war heute irgendwie komisch, findest du nicht
auch?«,
fuhr Bendine fort.
»Was meinst du mit komisch?« Heini legte die Hände auf
den
Rücken und beugte den Kopf noch ein bisschen weiter nach
vorn,
um Bendine ins Gesicht sehen zu können.
»Na irgendwie … fahrig.«
»Nö, sie war doch wie immer.«
Bendine seufzte leise. Meine Güte, dachte sie, Männer
merkten
aber auch gar nichts. Das war bei ihrem verstorbenen
Friedhelm
auch schon so gewesen. Bei dem waren alle Sensoren nur
auf sein
Boot gerichtet gewesen. Seine Ludmilla. Bendine hatte sie
immer
nur die Heilige Kuh genannt. Friedhelm hatte das gar
nicht gerne
gehört, hatte ihr sogar Eifersucht unterstellt. Ph,
Eifersucht, sie
war ja froh gewesen, wenn er beschäftigt war! Und das
möglichst
weit entfernt von ihrem eigenen Dunstkreis.
»Ist ja auch egal«, nahm sie das Gespräch mit Heini
wieder
auf, »jedenfalls finde ich, dass Lothar langsam ein
bisschen tüdelig
wird. Aber irgendwie muss sich ein Mann, der so eine
hohe
Meinung von seiner Intelligenz hat, ja beschäftigen als
Rentier.
Und was liegt da näher, als ein Buch zu
schreiben.«
»Wirklich?«
Bendine verdrehte die Augen. »Jo, Heini, wir sind da.
Den
Rest kann ich alleine gehen.« Sie drückte dem
verdutzten Heini
einen Kuss auf die Wange und ging dann schnellen
Schrittes über
den Weg an der Cliner Quelle vorbei Richtung
Nordseestraße zu
ihrer Pension, wo hoffentlich ihre Nichte und eine heiße
Tasse
Tee auf sie warteten.
Als sie den Haustürschlüssel ins Schloss steckte,
hörte sie Stimmen
und Musik. Ach ja, Fenja und ihr Kochclub hatten ja heute
wieder
die Küche vereinnahmt. Das hatte sie ganz vergessen. Im
Grunde
mochte sie das Quartett aus drei Damen und einem Herrn
ja
auch gerne, aber die Art und Weise, wie sie ihre
gemeinsamen
Treffen gestalteten und dabei Bendines Küche in ein
Waterloo
verwandelten, missfiel ihr doch manchmal. Heute zum
Beispiel.
Sie hängte ihre schwarze Outdoorjacke an die Garderobe
und
warf den Schlüssel in den Schlüsselkasten. Immerhin, es
roch gut,
auch wenn Bendine nicht allzu viel von den Kochkünsten
der
Belagerer hielt. Sie betrat die Küche, wo eine der drei
Frauen
hektisch eine Zigarette in die Spüle warf und mit den
Händen
vor ihrem Gesicht herumwedelte.
»Das hilft jetzt auch nicht mehr«, sagte Bendine und
öffnete
das Fenster über der Spüle.
Fenja, ihre Nichte, saß am Tisch, auf dem abgegessene
Teller
und leere Weingläser herumstanden. »Oh, hey, Bendine,
du bist
ja schon da«, sagte sie und rappelte sich auf. Dabei
fiel eine Gabel
auf die Fliesen. Die anderen waren ebenfalls
aufgesprungen und
guckten betreten.
Bendine sah auf die Uhr. »Es ist fast halb elf, später
komm ich
selten. Wo ist Nele?«
»Schläft«, antwortete Fenja, und alle begannen
hektisch die
Teller zusammenzustellen.
»Willst du noch was essen? Es gibt Tofu-Auflauf.« Fenja
nahm
mit spitzen Fingern die Kippe aus der Spüle und warf sie
in den
Mülleimer.
Deshalb sind alle betrunken, dachte Bendine. Ihnen fehlte
die
Grundlage. »Nein, danke«, sagte sie laut. »Möchte
jemand Tee?«
Erstaunlicherweise wollte niemand außer Fenja. Die
beiden
Frauen und der Mann, Bendine vergaß immer die Namen,
verabschiedeten
sich und verließen eilends Bendines Haus.
»Wer von denen kann denn noch fahren?«, fragte
Bendine,
während sie Wasser in den Kessel füllte.
»Die machen jetzt einen Spaziergang zum Sielhafen und
lassen
sich dort von einem Taxi abholen. Jedenfalls hoffe ich
das.« Fenja
klappte die Tür der Spülmaschine zu und nahm zwei
Becher aus
dem Schrank. »Wie war dein Leseabend?«
»Ach, eigentlich wie immer, bisschen langweilig.
Allerdings …«
Bendine kicherte. »Der Lothar Semmler, du weißt doch,
der seit
einem Vierteljahr in Rente ist …«
»Der mit dem missratenen Sohn, der ihn nie besucht?«,
unterbrach
Fenja.
»Genau, er jammert zwar immer, aber ehrlich gesagt,
mich
wundert’s nicht, dass der Junge nicht öfter kommt. Der
Semmler
kriegt doch schon einen Anfall, wenn die Enkel seine
Fernsehzeitung
anfassen. Das hätte es zu Brigittes Lebzeiten nicht
gegeben.«
Bendine goss kochendes Wasser über die Teebeutel – das
Teesieb
mit losem Tee gab’s nur für die Touristen.
»Na ja«, fuhr Bendine fort, »Lothar will einen Krimi
schreiben.
Stell dir das vor.«
Fenja bearbeitete unsanft mit dem Löffel den Teebeutel.
»Nun
gib dem Beutel eine Chance, okay?« Bendine zog die Stirn
kraus.
»Mir wird immer ganz anders, wenn ich sehe, wie du mit
dem
Tee umgehst.«
»Tut ihm nicht weh, glaub mir. Was war das mit dem
Krimi
vom Lothar?«
»Ach, eigentlich unwichtig. Er will einen Todesfall, der
sich
hier vor ungefähr zwanzig Jahren zugetragen hat,
verarbeiten.
Klar, dass der sich nichts ausdenken kann.«
»Ach ja? Was war denn das für ein Todesfall, etwa
Mord?«
Fenja Ehlers, Erste Hauptkommissarin bei der Kripo in
Wittmund,
interessierte sich schon von Berufs wegen für
Mordfälle,
und wenn sich diese auch noch im beschaulichen
Carolinensiel
zutrugen, waren sie umso interessanter. Auch wenn sie
sich lange
vor ihrem Umzug dorthin ereignet hatten.
Bendine trank einen Schluck Tee, den sie mit ein paar
Tropfen
Sahne angereichert hatte. Den Kandis sparte sie sich aus
Eitelkeit.
Ob das nun wirklich ihrer Figur zugutekam, wusste sie
nicht,
aber es beruhigte ihr Gewissen. In den letzten Jahren
hatte sie ein
bisschen zugelegt.
»Ja, ein Mann hat damals seine Frau erschlagen. Sie
haben ihn
verurteilt und eingesperrt, irgendwo bei Hannover, ich
glaube,
Celle heißt die Stadt. Soll sehr hübsch sein. Das hat
mir Tomke
erzählt. Was jetzt mit ihm ist, weiß ich nicht.«
»Aber dann ist doch alles klar, was will denn der Lothar
noch
darüber schreiben? Ich denke, Krimis liest man nur zu
Ende, weil
man wissen will, wer der Mörder ist.«
Bendine trank ihren Tee aus und stand auf. »Der Mann
hat
immer behauptet, er sei unschuldig, aber keiner hat ihm
geglaubt.
War wohl ein ziemlich komischer Typ.«
»Gut möglich, Mörder sind meistens komische Typen.«
Fenja
stellte ihre Tasse in die Spülmaschine und gähnte.
»Ich geh schlafen,
muss morgen zum Gericht.«
»Na dann, gute Nacht«, sagte Bendine. »Ich räum noch
ein
bisschen auf.« Sie blickte ihrer Nichte vorwurfsvoll
hinterher, aber
die war schon verschwunden.
***
Mittwoch, 8. Oktober
Meine Güte, nun beweg dich doch mal, dachte Werner
Karlssen
und zerrte an der Hundeleine, an der ein betagter Dackel
mit
Hängebauch in Zeitlupe hinter seinem Herrchen
herschlich. Der
Hund war auch einfach viel zu dick, kein Wunder, dass der
so
lauffaul war. So langsam bekam er eine gewisse
Ähnlichkeit mit
seinem Namen, Herkules. Wenn Ilse, Karlssens Frau, bloß
mal auf
ihn hören würde, aber nein! Sie konnte es einfach nicht
lassen, den
Hund auch vom Tisch zu füttern. Dabei bekam er doch
schon
seine tägliche Ration Dosenfutter. Wahrscheinlich
schloss Ilse von
ihrem eigenen Appetit auf den des Hundes.
Aber Ilse war ja schon immer eine Wuchtbrumme
gewesen.
Eine rundum gesunde, überaus wendige Wuchtbrumme. Sie
erklomm
die Treppen in ihrer Doppelhaushälfte immer noch
flinker
als Karlssen, der schon nach den ersten vier Stufen nach
Luft
schnappen musste. Dabei war er doch so dünn.
Alles Quatsch, was die Ärzte erzählten, fuhr es ihm
durch den
Kopf. Er fröstelte. Es war früh am Morgen, die Sonne
warf ihre
ersten Strahlen auf den Alten Hafen, der Himmel war
milchig
blau. Die Schiffe lagen still im trüben Wasser, außer
ihm und
Herkules war noch niemand unterwegs. Wehmütig
betrachtete
er die alten Segelschiffe, dachte an vergangene
Segeltouren mit
seinem Freund Rudi. Aber der war ja nun auch schon
tot.
Nutzlose Gedanken, wieder zerrte er am Halsband, und
plötzlich
sah er es. Es dümpelte neben dem Schiffsrumpf, hatte
sich in
einem der Seile verfangen. Werner Karlssen legte den Kopf
schräg
und kniff die Augen zusammen. Das sah ja aus wie
…
Er schluckte. Das sah nicht nur so aus wie ein Mensch,
das war
einer. Der Mensch lag auf dem Bauch, das Gesicht im
Wasser, und
er rührte sich nicht. Dieser Mensch war mit Sicherheit
tot.
Karlssen schnappte nach Luft, wusste zunächst nicht,
wohin,
dann klemmte er sich den strampelnden Herkules unter den
Arm
und trabte los.
***
Fenja hatte den Wecker auf acht Uhr dreißig gestellt.
Das hieß,
sie würde ausgeschlafen, ausgeruht und mit einem
reichhaltigen
Frühstück im Magen um zehn Uhr dreißig im Zeugenstand
stehen.
Leider hatte sie vergessen, ihr Smartphone auszuschalten.
Na
gut, eigentlich nicht vergessen, sie hatte es einfach
nicht für nötig
gehalten. Die Gewaltdelikte in ihrem
Zuständigkeitsbereich im
Wittmunder Kommissariat hielten sich normalerweise in
Grenzen.
Aber was konnte man schon planen?
Jetzt drängelte sich ihr Klingelton um sechs Uhr zwölf
in ihre
Träume. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie im
Schlaf gelächelt
hatte, bevor sie den Anruf entgegennahm. Es musste
wohl
ein angenehmer Traum gewesen sein, aus dem die
Marseillaise
sie gerissen hatte. Warum sie die französische
Nationalhymne
zu ihrem Klingelton erkoren hatte, konnte sie auch nicht
so genau
sagen. Sie gefiel ihr einfach. Hatte so etwas
Dynamisches,
Kämpferisches. Wie auch immer, nach dem Anruf sah sie
sich
gezwungen, ihren Plan vom reichhaltigen Frühstück und
vom
Ausgeruhtsein über den Haufen zu werfen,
schnellstmöglich in
ihre Jeans und eine warme Jacke zu schlüpfen und sich
zum Sielhafen
zu begeben.
Wenn sie das richtig verstanden hatte, schwamm dort
eine
Leiche im Hafenbecken. Bendine, die in ihrem hellblauen
verwaschenen
Morgenmantel in ihrer Zimmertür gestanden hatte
–
wahrscheinlich war sie von Fenjas Halbschlafgepolter
wach
geworden – hatte sie besorgt angesehen. Sie hielt es
für unverantwortlich,
das Haus ohne anständiges Frühstück zu
verlassen.
Fenja passierte im Laufschritt die Cliner Quelle und
bewältigte
die kurze Strecke zum Alten Hafen an der Harle entlang in
wenigen
Minuten. Es versprach ein schöner Tag zu werden,
denn
der noch trübblaue Himmel war wolkenlos. Am Alten
Hafen
erwarteten sie wie immer mehrere Gaffer. Wo zum
Kuckuck
kamen die bloß schon wieder her? Sie schob
protestierende Leiber
beiseite und trat auch schon mal auf jemandes Fuß. Auf
der
Brücke stand ein Streifenwagen, die Beamten versuchten,
die
Gaffer zum Weitergehen zu bewegen. Zwei betreten
schauende
Feuerwehrmänner und der Notarzt erwarteten Fenja am Rand
des
Hafenbeckens. Vor ihren Füßen lag der leblose Körper
einer Frau
mit roten halblangen Haaren. Sie trug Jeans, eine
beigefarbene
Jacke mit Kapuze und schwarze Pumps. Oder besser gesagt
einen
Pumps, der andere Schuh fehlte. In ihrem Haar klebte
Blut.
»Also«, sagte der Notarzt, der sich als Ralf Burmester
vorstellte,
»die Frau ist anscheinend ertrunken. Wahrscheinlich ist
sie auf die
Reling des Schiffes gestürzt, daher die Wunde am Kopf,
und dann
bewusstlos ins Wasser gefallen.«
»Ein Unfall also«, sagte Fenja, »wozu brauchen Sie
mich dann?«
Burmester hob die buschigen Brauen und wies auf die
linke
Kopfseite der Toten.
»Weil ich das hier seltsam finde.«
Fenja folgte seinem Fingerzeig und betrachtete das
zerrissene
linke Ohrläppchen der Frau. »Ja, und? Ein abgerissener
Ohrring,
das ist wahrscheinlich beim Sturz passiert.«
»Das glaube ich eher nicht. Es gibt weder am Ohr noch
in
der umliegenden Region am Schädel irgendwelche
Hämatome
oder Verletzungen, und die gäbe es, wenn sie
draufgefallen wäre
oder irgendwo langgeschrammt. Sie ist aber mit dem
Hinterkopf
aufgeschlagen, ins Wasser gefallen und ertrunken. Für
mich sieht
es so aus, als habe jemand den Ohrring festgehalten, als
sie stürzte,
der andere ist nämlich noch völlig intakt, sehen
Sie?«
Fenja betrachtete das kegelförmige, etwa fünf
Zentimeter lange
Gehänge am rechten Ohr der Toten. »Vielleicht ist die
Wunde ja
schon älter?«, gab sie zu bedenken.
Burmester zog die Stirn kraus. »Wer läuft denn mit
einem zerrissenen
Ohrläppchen herum und lässt den anderen Ohrring
drin?
Außerdem ist die Wunde ziemlich frisch und dann …
schauen Sie
sich mal die Bluse an. Der obere Knopf ist rausgerissen.
Könnte
auch jemand in den Ausschnitt gegriffen haben.«
Fenja musste Burmester recht geben. Das war in der
Tat
merkwürdig, die Kleidung der Frau war sonst tadellos
gepflegt.
Fenja hatte nicht den Eindruck, dass das Opfer sich
üblicherweise
schlampig kleidete. Im Gegenteil, die Garderobe wirkte
eher elegant.
»Wie lange ist sie schon tot?«
»Da kann ich nur vage schätzen, mehrere Stunden. Ich
denke,
der Tod trat gegen Mitternacht ein.«
»Und Sie meinen, sie war nicht allein, als sie
stürzte?«
»Gut möglich.«
»Okay«, sagte Fenja, »dann brauchen wir hier
Verstärkung.«
Sie blickte in die Runde. Außer Burmester stand niemand
in
Hörweite. Die beiden Feuerwehrleute waren damit
beschäftigt,
die Zuschauer auf Abstand zu halten.
»Ich muss Sie ja nicht darauf hinweisen, dass Diskretion
in einem
solchen Fall besonders wichtig ist«, ermahnte sie
Burmester,
während sie ihr Smartphone bearbeitete.
»Versteht sich ja von selbst«, brummte der und warf
einen bedauernden
Blick auf die Tote. »Sie war übrigens meine
Patientin.
Ihr Name ist … war Heike Bornum.«
Hier erfolgt jetzt einen Schnitt und es folgen noch ein paar Seiten zu den parallel in England stattfindenden Ereignissen.
ZWEI
Eastbourne, Südengland, vier Tage zuvor
Matthew King war regelmäßig am Samstagmorgen Gast
am
Frühstückstisch von Prentiss Bolton-Smythe, dem Pfarrer
des
kleinen Ortes Beecock an der Küste von East Sussex.
Dieser
und seine Frau Harriet sahen es als Christenpflicht an,
dem armen
kranken Mann, dem eine Bombe der IRA den linken Arm
weggerissen und der in schweren Zeiten seinem Land so
tapfer
gedient hatte, ein Mal in der Woche ein opulentes
englisches
Frühstück zu servieren. Matt brauchte immer zwei
Stunden, um
den gut gefüllten Teller zu leeren, wobei man das
Gefühl hatte,
dass er sich zwingen musste, das reichhaltige Essen und
vor allem
den Tee hinunterzubekommen.
Harriet wurde das Gefühl nicht los, dass Matt das
Frühstück
so lange hinauszögerte, bis er reinen Gewissens nach
einem Bier
verlangen konnte. Meistens wurden auch zwei daraus, denn
Harriet
brachte es nicht übers Herz, dem Mann diese
bescheidene
Bitte abzuschlagen. Nachdem er dann bis zum frühen
Nachmittag
an Harriets Tisch in ihrem mit Häkeldecken
überfrachteten Esszimmer
gesessen und bereits ein erstes Mittagsschläfchen
hinter
sich gebracht hatte, begleitete Harriet ihren Gast im
Verein mit
einer »guten Tasse Tee«, die wahrscheinlich in der
Toilette landen
würde, wieder in seine Wohnung zurück. Harriet
schüttelte sich
jedes Mal, wenn sie die Wohnung betrat.
Matt war zwar ein stiller, gutmütiger Mensch, aber er
weigerte
sich vehement, jemanden in seiner Wohnung putzen zu
lassen.
Ihn störe das bisschen Schmutz nicht, pflegte er zu
sagen, wobei
Harriet nicht von einem bisschen Schmutz reden würde,
sondern
von einer Mülldeponie. Wenn Daisy Henderson, ihre
Freundin
vom Women’s Institute, sie besuchte, beschwerte sie
sich jedes Mal
über den muffigen Geruch nach kaltem Rauch aus dem
oberen
Stockwerk und erinnerte Harriet an ihre Pflicht als
Vermieterin.
»Du musst dafür sorgen, dass dieser Saustall
ausgemistet wird,
Harriet. Und vor allem musst du diesem Menschen das
Rauchen
hier im Haus untersagen. Am Ende fackelt der euch hier
alle noch
ab. Wo soll denn das hinführen, wenn du nicht mal mit so
einem
alten Säufer fertigwirst?«
Harriet musste Daisy in diesem Punkt recht geben. Sie
hatte
Probleme, sich gegen ihre Mitmenschen durchzusetzen. Mit
solchen,
die friedfertiger Natur waren und die anderen nach
ihrer
eigenen Fasson glücklich werden ließen, kam sie
wunderbar zurecht.
Aber mit jenen, die sich ständig einmischten und sich
einbildeten,
sie hätten für alles eine Lösung und würden alles
besser
machen – mit anderen Worten: solchen wie Daisy
Henderson –
kam sie einfach nicht klar.
Die passenden Antworten auf Daisys Unverschämtheiten
fielen
Harriet immer erst ein, nachdem sie sich eine Weile im
stillen
Kämmerlein darüber aufgeregt hatte. Was hatte sie nicht
schon
alles versucht. Sogar ein Seminar in Eastbourne über
Rhetorik
hatte sie besucht. Heimlich natürlich, ohne Daisy etwas
zu sagen.
Genützt hatte es wenig. Ja, ein paar nette Tipps hatte
die Leiterin
ihren Seminarteilnehmern mit auf den Weg gegeben.
Sich
bestimmte Repliken zurechtzulegen, die man dann bei
Bedarf
abrufen konnte. Zum Beispiel auf eine unverschämte Frage
mit
einer Gegenfrage zu antworten, anstatt brav Auskunft zu
geben,
wie man das als höflicher Mensch gewöhnt war. Guter
Tipp, er
funktionierte bloß nicht, weil Harriet solche Dinge
immer erst
dann einfielen, wenn sie schon artig geantwortet
beziehungsweise
sich für irgendetwas entschuldigt hatte. Es war wie ein
Reflex.
Das war ihr Problem, sie war einfach zu höflich. Aber
musste die
Frau eines Pfarrers nicht höflich sein?
Harriet folgte ihrem Untermieter geduldig die Stufen
hinauf
zu seiner Wohnung. Der Becher Tee in ihrer Hand war nur
etwas
mehr als halb voll, damit sie auf der Treppe, die mit
flauschigem
dunkelgrünen Teppichboden ausgelegt war, nichts
verschüttete.
Allerdings konnte sie sich diese Vorsichtsmaßnahme in
Zukunft
sparen, denn Matt hatte in seinem Hirn die Bedeutung von
einem
Fußabtreter nicht abgespeichert. Und er lief
grundsätzlich
in diesen alten Armeetretern herum, in deren Profil sich
jeder
Kiesel vom Strand festtrat, und nicht nur die Kiesel.
Harriet
hatte manchmal das Gefühl, dass Matt bewusst jeden
einzelnen
Hundehaufen ansteuerte, den er finden konnte.
Es war unfassbar, dass immer noch Menschen die
Hinterlassenschaften
ihrer Vierbeiner einfach liegen ließen. Wo das
doch
mittlerweile eine empfindliche Geldbuße nach sich zog.
Aber wer
kümmerte sich heutzutage noch um Gesetze. Diebstahl war
auch
verboten, hielt das die Taschendiebe vielleicht davon ab,
alten,
hilfsbedürftigen Damen die Handtaschen zu klauen?
Oder schlimmer: Gesetze und harte Strafen verhinderten
ja
nicht mal, dass Menschen umgebracht wurden. Das hatten
sie
vor nicht allzu langer Zeit auch in Beecock schmerzlich
erfahren
müssen, als einer der ihren einen der ihren ins Jenseits
befördert
hatte. Aber das war eine andere Geschichte.
Harriet betrat die kleine Zwei-Zimmer-Wohnung mit
der
Miniküche, in der Matt in den zwei Jahren, in denen er
nun
schon hier wohnte, mit Sicherheit noch keine sechzig
Minuten
verbracht hatte. Sie stellte die Tasse auf die kleine
Kommode
im Flur und schob dabei einen randvoll mit filterlosen
Kippen
gefüllten Aschenbecher zur Seite, warf einen kurzen,
leidvollen
Blick auf die vergilbte Rosentapete und nickte Matt zu,
der in der
Wohnungstür stehen geblieben war, um diese zu
schließen, wenn
Harriet seine Wohnung verlassen hatte. Nicht gerade eine
subtile
Art, seiner Vermieterin zu zeigen, dass sie unerwünscht
war.
Was macht der Mensch bloß den ganzen Tag?, fragte sich
Harriet
auf dem Weg nach unten. Manchmal hörte sie ihn
weggehen,
meistens war er dann auf dem Weg zum Foxhole Inn,
dem
örtlichen Pub. Dort verbrachte er viele Stunden,
manchmal fuhr
er auch mit dem Bus nach Eastbourne und kam mit einer
Einkaufstüte
vom dortigen Tesco zurück. Wenn er von der
Haltestelle
zum Pfarrhaus ging, schlenkerte sein linker Jackenärmel
wie ein
ausgedienter Schlauch um seinen ausgemergelten Körper.
Warum
er allerdings bis nach Eastbourne fuhr, um sich mit
Schnaps einzudecken,
das war Harriet ein Rätsel. Es gab in Beecock
einen
Aldi, da war der Schnaps bestimmt billiger. Aber
vielleicht legte
er in dieser Beziehung ja Wert auf Qualität und setzte
teurer mit
besser gleich.
Aber Harriet wollte sich darüber jetzt keine Gedanken
machen.
Sie musste noch die Reisetasche packen, bevor sie
zum
WI‑Treffen ging. Und morgen früh, gleich nach dem
Frühstück,
würde sie zum Lake District aufbrechen, um ihre
Schwester Lydia
zu besuchen, die heute aus dem Krankenhaus
zurückkommen
würde. Sie hatte sich einer Blinddarmoperation
unterziehen müssen
und Harriet gebeten, ihr ein paar Tage Gesellschaft zu
leisten,
da sie sich noch recht schwach fühle. Harriet schnaubte
in sich
hinein. Lydia brauchte weniger die Gesellschaft ihrer
Schwester
als jemanden, den sie herumkommandieren konnte.
Aber konnte man eine solche Bitte abschlagen? Nein,
fand
Harriet, sie, die Frau des Pfarrers, konnte das nicht.
Und wenn sie
ehrlich war, fuhr sie ganz gerne mal in den Norden. Das
Seengebiet
war traumhaft schön – wenn es dort bloß nicht so oft
regnen
würde. Hier in Südengland waren sie da besser dran.
Eigentlich
hatte sie schon gestern aufbrechen wollen, aber heute war
ja das
Treffen vom Women’s Institute. Daisy hatte es
anberaumt, weil
sie wieder irgendeine karitative Sammlung initiiert
hatte.
Diesmal wollte sie ein Cricketspiel zwischen dem
Männergesangsverein
Beecock und dem Segelclub von Seaford auf die Beine
stellen. Harriet hatte heftige Zweifel, dass die Herren
sich dazu
bereit erklären würden. Wenn, dann wahrscheinlich nur,
um dem
Zorn von Daisy Henderson zu entgehen. Aber im Grunde
war
es Harriet egal, womit sich die Männer beschäftigten,
von ihr aus
auch mit einem Spiel, dessen Regeln sie nie verstanden
hatte und
bestimmt auch nie verstehen würde.
Und das ging vielen Leuten so. Nicht mal Prentiss hatte
sie
begriffen. Nun, das war nicht weiter verwunderlich.
Harriet sah
auf die Uhr und beschleunigte ihre Schritte. Sie würde
zu spät
kommen, und das hatte Daisy gar nicht gerne. Immerhin,
Erin
war da und würde Daisy bremsen. Harriets Gesicht
entspannte
sich.
Das war das wirklich Gute an den Treffen des WI, dass sie
in
Erin Roberts Tea Room stattfanden. Sie backte herrliche
Scones
und hatte immer so ausgefallene Rezepte für ihre
Sandwiches.
Nicht dieses Hühnchen-Bacon-Thunfisch-Einerlei. Bei ihr
gab
es Avocadocreme und dieses komische Tofuzeugs. Okay, das
war
jetzt nicht der Brüller gewesen, aber neulich hatte sie
Sushi gemacht,
nachdem sie in Eastbourne bei einem japanischen
Koch
einen Kurs besucht hatte. Harriet hätte nie vermutet,
dass ihr das
schmecken würde, aber sie fand es köstlich. Neben ihren
Kochkünsten
hatte Erin Humor und war nett anzusehen. Außerdem
wurde sie mit Daisy fertig.
Das kleine Glockenspiel an der Eingangstür des Tea
Rooms
bimmelte so leise, dass es das Stimmengewirr der achtzehn
bereits
versammelten Frauen nicht übertönte.
Erin stand hinter dem Tresen und goss Wasser in
bauchige
Porzellankannen. Doris Martin, die Erin oft und gerne
aushalf,
bahnte sich mit vollen Tabletts ihren Weg zwischen den
Vierertischen
hindurch und verteilte Tee, Kaffee und Sandwiches.
Daisy
saß mit Phoebe Appleton und Holly Dalton, der die
Boutique
in der King’s Road gehörte, zusammen. Kaum hatte sie
Harriet
erblickt, winkte sie sie mit beiden Händen heran.
»Harriet, da bist du ja endlich, wir warten nur auf
dich! Nun
beeil dich mal, damit wir anfangen können.«
Harriet zog unwillkürlich den Kopf ein, tat wie ihr
geheißen,
und ließ sich auf den letzten freien Stuhl fallen. Doris
kam sofort
heran, legte ihr eine Hand auf die Schulter und
begrüßte sie mit
ihrer dröhnenden Stimme.
»Harriet, was darf ’s sein? Tee und Lachs mit
Ingwer?«
Harriet nickte. Es war ihr immer peinlich, im Mittelpunkt
der
Aufmerksamkeit zu stehen, so wie jetzt, und manchmal
wünschte
sie sich wirklich, Doris würde ein bisschen leiser
sprechen! Musste
ja schließlich nicht jeder wissen, was sie essen
wollte.
»Gute Idee, Doris«, zwitscherte Daisy neben Harriet,
»das
nehme ich auch.«
»War mir klar.« Doris, die schon wieder auf dem Weg
zum
Tresen war, zwinkerte Erin zu.
»Ladys!« Daisy Henderson war aufgestanden und hämmerte
mit
ihrem Teelöffel so heftig gegen ihre Tasse, dass Harriet
befürchtete,
sie würde zerbrechen. Tat sie aber nicht.
Das Stimmengewirr ebbte langsam ab.
»Ladys«, wiederholte Daisy Henderson, »wir müssen
jetzt über
das Datum unseres Cricketspiels abstimmen. Die Herren
aus
Beecock und Seaford haben mir zwei Möglichkeiten genannt
…«
In den folgenden eineinhalb Stunden spulte Daisy
Henderson
routiniert ihr Programm herunter. Es gab wie immer
Diskussionen
über das Datum, das Rahmenprogramm, über die
Zuständigkeit
der Imbiss- und Getränkestände und so weiter. Alle
waren dafür,
dass Erin die Sorge für das leibliche Wohl übernehmen
sollte, was
Daisy Henderson mit einigem Missfallen registrierte, denn
sie
hielt sich viel auf ihre Schokoladenmuffins zugute.
Harriet würde
sich mit Phoebe Appleton um das Barbecue kümmern, und
Anne
Simmons, die Leiterin der Bücherei, sollte gemeinsam mit
Julia
Brown, dem jüngsten Mitglied, Wein und Sekt ausschenken.
Um
das Bier sollten sich die Männer kümmern, die hatten ja
sonst
nur eine Aufgabe, nämlich ein spannendes Spiel
abzuliefern. Als
Draufgabe zum Spiel hatte Daisy aber noch ein kleines
Konzert
der Flötenklasse der Grundschule Eastbourne eingeplant,
der ja
auch ihre Enkelin angehörte. Diese Aussicht ließ einige
der Damen
erbleichen.
Der Erlös des Events – Daisy hatte es tatsächlich so
genannt –
sollte dann in einen geplanten Gymnastikraum für das
Seniorenheim
in Eastbourne investiert werden.
Sechs Tage später, am Nachmittag des folgenden Freitags,
war
Harriet aus dem Lake District zurückgekehrt. Dort hatte
sie
mehrere Tage und – ganz und gar unpassend für die Frau
eines
Pfarrers – mit Groll im Herzen ihrer diktatorischen
Schwester
beigestanden, was bedeutete, sie hatte die Putzfrau,
Köchin und
Zofe gegeben. Wobei Harriet vollkommen sicher war, dass
Lydia
keineswegs so bettlägerig war, wie sie tat.
Im Gegenteil, als Harriet am Donnerstagnachmittag
schwer
bepackt vom Tesco zurückkam, war Lydia erstaunlich flink
und
kein bisschen kränklich und schwach durchs Wohnzimmer
getänzelt.
Wahrscheinlich war die Anwesenheit von Bertram
Gland,
dem kürzlich verwitweten Nachbarn, der Grund für ihre
schnelle
Genesung gewesen. Jedenfalls hatte Harriet ihren Besuch
reinen
Gewissens um einen Tag verkürzt und war heimgefahren zu
Prentiss,
ihrem Mann, der schließlich auch ihrer Fürsorge
bedurfte.
Und wie sich herausstellte, war sie keinen Tag zu früh
heimgekehrt.
Im Haus war es kalt, und Prentiss empfing sie mit
einem
Schnupfen. Wahrscheinlich hatte er wieder vergessen, die
Fenster
zu schließen, und das, obwohl die Heizung voll
aufgedreht war.
Der Pfarrer hatte nämlich die Angewohnheit, jeden Morgen
alle
Fenster des Pfarrhauses zu öffnen, weil er der Meinung
war, dass
Sauerstoff Herz und Hirn beflügele. Das mochte stimmen,
dachte
Harriet, ihrer Arthrose hingegen bekam das eher nicht,
weshalb
sie auch für das Schließen der Fenster zuständig war.
Nun ja, das
hatte sich Prentiss wohl ganz gespart.
Wenigstens war er jetzt erkältet, geschah ihm recht,
dachte
Harriet, schloss die Fenster und schüttelte sich. Die
Küche war
aufgeräumt, und im Ofen stand eine Auflaufform mit
Shepherd’s
Pie. Auf Doris Martin, den guten Geist von Beecock, war
eben
Verlass. Aber woher kam bloß dieser Geruch? Der
Mülleimer war
leer, das hatte Harriet schon kontrolliert. Womöglich
verrottete
wieder eine Taube im Schornstein, vielleicht hatte
Prentiss ja auch
deswegen so ausgiebig gelüftet. Darum musste sie sich
als Erstes
kümmern.
Prentiss hatte seine Frau wie immer herzlich und ein
wenig
zerstreut begrüßt und sich wieder in sein Arbeitszimmer
zurückgezogen,
um an seinem Buch zur Christlichkeit der
anglikanischen
Kirche weiterzuarbeiten. Harriet setzte den Kessel auf,
um
in Ruhe eine heiße Tasse Tee zum Aufwärmen zu trinken.
Sie
richtete sich auf einen erholsamen Abend auf dem Sofa
ein. Zur
Abwechslung würde sie es sich mal selbst gemütlich
machen und
im Fernsehen eine Folge von Midsomer Murders, mit
diesem
höflichen Inspector Barnaby, gucken.
Sie hatte gerade den Tee aufgegossen, als jemand den
Türklopfer
betätigte. Harriet seufzte, ging zur Tür und lugte
durch den
Spion. Offensichtlich hatte Daisy Henderson mitbekommen,
dass
die Dame des Hauses wieder im Pfarrhaus eingetroffen war.
Wie
stellte sie das bloß an? Sie wohnte ja nicht mal in der
Nähe. Man
könnte fast meinen, sie hätte überall auf den Straßen
Kameras
installiert, so gut wusste sie immer über alles
Bescheid.
Harriett würde also zum Tee Gesellschaft haben, wenn
die
heute auch nicht unbedingt willkommen war. Daisy
Henderson
kam offenbar nie auf den Gedanken, dass ihre Anwesenheit
unerwünscht
sein könnte. Harriet öffnete und ließ ihre
Freundin
eintreten.
»Hallo, Harriet«, begrüßte Daisy sie und ging mit
wehendem
Schal an ihr vorbei ins Wohnzimmer. »Ich muss dringend
mit dir
reden. Es gibt da ein kleines Problem mit unserem
Cricketspiel.
Pete Allington, der Apotheker, fällt für das Spiel aus,
er hat sich
beim Kartoffelschälen den halben Finger abgesäbelt,
wirklich
furchtbar ungeschickt. Du musst Prentiss überreden, für
ihn einzuspringen.«
»Prentiss soll Cricket spielen?« Harriet hob erstaunt
die Brauen.
»Aber der kennt ja nicht mal die Regeln.«
»Die wird er sich eben aneignen müssen.« Daisy nahm
großzügig
die Tasse Tee entgegen und trank einen Schluck.
Dann
schnüffelte sie. »Harriet, was riecht hier so
komisch?«
»Ach, da klemmt bestimmt wieder eine Taube im
Schornstein
fest. Ich regle das morgen. Ich muss mich erst mal von
meiner
Schwester erholen. Das war eine anstrengende
Woche.«
Harriet trank einen Schluck Tee und hoffte, dass Daisy
den
Wink verstand und sich verabschiedete. Aber natürlich
verstand
sie ihn nicht, im Gegenteil, sie schien ihn überhaupt
nicht gehört
zu haben.
»Taube?«, sagte sie ungläubig. »Im Kamin?« Sie
stellte die Teetasse
auf den kleinen Beistelltisch, stand auf und steckte
ihren Kopf
unter den Kaminsims. »Ich kann nichts sehen«, kam es
hohl von
dort. »Und riechen tu ich hier auch nichts. Jedenfalls
ist es nicht
schlimmer als sonst im Haus.« Daisys Kopf mit den
weißen kurzen
Haaren kam wieder hervor. »Ich sage dir, das kommt von
oben.«
Sie wies mit dem Daumen zur Zimmerdecke.
»Du musst diesem Menschen da oben jetzt mal wirklich
die
Meinung sagen. Das geht doch nicht!« Daisy Henderson
hatte
die Hände in die Hüften gestemmt wie eine strafende
Göttin.
»Nun geh schon! Oder willst du, dass das Pfarrhaus zur
Müllhalde
verkommt?«
»Aber was soll ich denn sagen?« Harriet hatte nicht die
geringste
Lust, jetzt ihrem Untermieter entgegenzutreten. Er
konnte
ziemlich bockig sein, und dazu fehlte ihr im Moment die
Kraft.
Wenn sie ehrlich war, fehlte ihr eigentlich immer die
Kraft.
»Dann geh ich!«, sagte Daisy und stapfte trotz Harriets
Protest
nach oben.
Ihr ausladendes Hinterteil nahm die ganze Breite der
schmalen
Treppe ein. Sie klopfte an, während Harriet unten stand
und
die Hände rang. Sie hatte sich ihr Heimkommen etwas
anders
vorgestellt. Und jetzt musste sie sich mit ihrem
Untermieter auseinandersetzen.
Denn Daisy würde ihre Mithilfe in dieser Sache
darauf beschränken, Matt tüchtig die Meinung zu sagen,
und sich
dann aus dem Staub machen. Alles Weitere musste Harriet
regeln.
Prentiss arbeitete an seinem Buch und war in solchen
Fällen
keine Unterstützung. Prentiss war eigentlich in keinem
Fall eine
Unterstützung.
»Mr King«, rief Daisy, bekam aber keine Antwort.
»Harriet, der Mann ist nicht da!«, schrie sie nach
unten. »Wir
gucken uns das jetzt mal an. Gib mir deinen
Schlüssel!«
»Aber Daisy«, wimmerte Harriet, »wir können doch
nicht
einfach in seine Wohnung eindringen.«
»Wieso nicht? Wir wollen doch nur gucken.«
»Trotzdem.« Das ging Harriet irgendwie zu weit.
»Ha, lass mal«, kam es triumphierend von oben. »Die
Tür ist
offen, wieso auch nicht, glaube nicht, dass der da
wertvolle Juwelen
versteckt. Ich geh jetzt rein.«
»Daisy!«
Harriet stürmte nach oben, um ihre Freundin aufzuhalten
und
notfalls aus der Wohnung zu bugsieren. Aber dazu kam sie
nicht,
denn ein gellender Schrei drang zu ihr herunter. Harriet
war
so erschrocken, dass sie einen Moment auf der Treppe
stehen
blieb. Erst als der zweite Schrei ihr Gehirn erreichte,
stolperte sie
die letzten Stufen hinauf und folgte Daisy in die Wohnung
ihres
Untermieters. Sie ignorierte den Geruch.
»Daisy! Wo bist du? Was ist denn los?«
Harriet taumelte zwei Schritte durch den dunklen,
schmutzigen
Flur in ein Zimmer, das man nur als Aufenthaltsraum
bezeichnen
konnte. Ein einsames Sofa stand vor dem blinden Fenster
mit den
verdreckten Rosengardinen, die Harriet vor Jahren
aufgehängt
hatte. Vor dem Sofa stand ein Holztisch, auf dem alte
Zeitungen,
leere Zigarettenschachteln, ein leeres Wasserglas und
eine halb
volle Flasche Dalmore-Whisky standen.
Auf dem Sofa lag Matthew King. Die Augen quollen aus
den
Höhlen, der Mund war weit aufgerissen. Jetzt schrie
Harriet.