Das Grab in der Eilenriede
EINS
Wenn er sich noch zwei Minuten geduldete, würde er Zeuge, wie das Opfer endlich seinen letzten Atemzug tat. Der Killer spielte mit ihm, versetzte ihm noch einen Hieb und holte dann zum finalen Schlag aus ...
»Kaspar! Wie oft muss ich dich denn noch darum bitten, die Leiter wegzustellen?«
Vorbei! Der Kater floh mit einem gewaltigen Satz unter den wuchernden Jasmin, und die Maus nutzte die Gunst der Stunde, rappelte sich mühsam auf und verschwand im Erdreich unter dem Lattenzaun. Kaspar Hollinger klappte murrend sein Buch zu. »Ich muss jetzt los!«, rief Ursula, seine Frau, ihm von der Küche aus zu. »Du kannst die Leiter natürlich auch gleich ans Balkongitter stellen, das macht's einfacher für die Diebe.«
Hollinger, Polizeioberkommissar im Kleefelder Revier, erhob sich ächzend, um die Aluminiumleiter zu holen. Er hatte die letzten Kirschen gepflückt an diesem sonnigen Samstag im August, der endlich die langersehnte Wärme gebracht hatte. Die Sonne warf großzügig ihre letzten warmen Strahlen in seinen geliebten Garten, und er überlegte, ob er seinen Nachbarn Hubert Frings zum Grillen überreden könnte. Hubert war seit drei Jahren geschieden. Seine Frau hatte ihn verlassen, weil sie »keine Lust hatte bei diesen Spießern« – wie sie die Nachbarn nannte – »zu versauern«. Seitdem war Hubert alleinstehend und schien an diesem Zustand auch nichts ändern zu wollen. Hollinger hörte, wie die Haustür zuschlug, und lächelte. Er hatte den Abend für sich allein. Ursula war Krankenschwester im Vincenz-Krankenhaus und hatte Nachtdienst.
Er lehnte sich über den Gartenzaun und spähte auf das kleinere Nachbargrundstück. Die Terrassentür stand offen.
»Hubert!«, rief Hollinger, »ich hab noch Weizenbier im Keller!«
Er wartete. Nach einer halben Minute erschien Hubert Frings in der Tür, mit kurzer Hose und ebenso kurzem weißen T-Shirt, das großzügig den Blick auf einen behaarten Nabel freigab. Er stemmte die Fäuste in die Hüften. »Bei dir oder bei mir?«
»Komm rüber«, sagte Hollinger nach einem Blick auf den Grill seines Nachbarn. Wie viele Kolonien welcher Bakterien dort siedeln mochten, wollte er gar nicht wissen
»Ich bring den Grappa mit.«
»Ja, und mach schon mal Feuer. Holzkohle und Spiritus stehen neben dem Grill. Ich hol die Würstchen aus der Truhe.«
Eine halbe Stunde später zog der würzige Duft von Grillwürstchen über die nachbarlichen Grundstücke. Die Sommerferien waren gerade zu Ende gegangen, und in den umliegenden Gärten war es – trotz des regen Verkehrs auf der Kirchröder Straße – ungewöhnlich still. Die Kinder der Nachbarschaft, die sonst die nachmittägliche Stille unterbrachen, hatten sich wohl vor den Fernseher verkrümelt.
Hubert stand am Grill, in der einen Hand die Würstchenzange, in der anderen ein Glas Weizenbier. Hollinger hatte es sich wieder in seinem Lehnstuhl bequem gemacht. Er blinzelte zufrieden in die Sonne und leckte sich den Bierschaum von den Lippen. Es war einer dieser vielversprechenden Sommerabende, die er mehr liebte als einen Urlaub auf Ibiza. Zum Glück hatte er keine Ahnung, dass diese Idylle nur von kurzer Dauer sein sollte.
»Hast du keinen Ketchup?«, wollte Frings wissen. »Ketchup und Currypulver. Dann haste zur Wurst gleich 'n bisschen Gemüsiges.«
Hollinger blinzelte verwirrt in die untergehende Sonne. »Seit wann isst du denn Gemüse? Willste abnehmen?«
Frings klopfte sich liebevoll auf den Bauch und nahm einen Schluck Bier. »Das nich gerade, aber ...« Frings kam nicht mehr dazu, seine plötzliche Vorliebe für »Gemüsiges« zu erklären, denn irgendjemand bummerte kräftig gegen die Hollinger‘sche Haustür, und noch bevor Kaspar sich aus dem Sessel gestemmt hatte, rief eine ungehaltene Frauenstimme: »Was zum Kuckuck fällt Ihnen ein!«
»Scheiße«, entfuhr es Hollinger auf dem Weg zur Tür. Mittlerweile drückte jemand energisch auf die Klingel. Draußen stand eine gepflegte ältere, leicht schwankende Dame in Begleitung eines nervösen Streifenbeamten. »Tut mir leid, Herr Hollinger, aber ...« »Schon gut«, sagte Hollinger und winkte ab. »Was denkst du dir bloß immer, Berna«, seufzte er dann und zog seine Mutter unsanft in den Flur.
»Langsam, Junge, pass doch auf!«, schimpfte Bernadette Hollinger und suchte Halt am Garderobenständer.
»Wieder beim Bowlen?«, fragte Hollinger mit einem Blick auf den Streifenbeamten. »Nee, auf dem Jubiläumsfest«, antwortete der und hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen. Er tippte kurz an seine Mütze und ging zurück zu seinem Kollegen, der im Streifenwagen wartete. Ach ja, das Jubiläumsfest vom Kleefelder Sportverein hatte er ganz vergessen. Wahrscheinlich war der größte Teil der Anwohner dort versammelt. Seine Mutter jedenfalls hatte es nicht vergessen und sich dort mit ihren Freundinnen aus dem Stephansstift zu einer kleinen Weinprobe getroffen – wie sie es nannte. »Du machst jetzt erst mal ein Nickerchen«, sagte Kaspar und schob seine Mutter vorsichtig Richtung Gästezimmer. »Wenigstens ist Ursula nicht da«, murmelte er.
»Was hast du gesagt?«, rief Bernadette Hollinger, als sie mit unsicheren Schritten das Gästezimmer betrat. Hollinger hatte Mühe, seine Mutter davon zu überzeugen, dass draußen keine Grillparty stattfand und es auch nichts zu trinken gab. Er bot ihr aber ein Käsebrot an, was sie verächtlich ablehnte, bevor sie sich endlich aufs Bett legte. Zehn Minuten später kehrte Hollinger zu seinem Bier und in seinen Sessel zurück. »Wird wieder 'ne unruhige Nacht«, sagte er und leerte sein Glas. Frings, der sich mittlerweile drei der fünf Würstchen einverleibt hatte – ohne Ketchup –, nickte nur.
Hollinger sollte recht behalten, denn zehn Minuten später klingelte es erneut an der Haustür. Vor der Tür stand Sabine Krämer, Ursulas Freundin. Sie machte einen nervösen Eindruck. »Ursula ist nicht da. Sie hat Nachtdienst«, sagte Hollinger und fürchtete, die Besucherin würde in Tränen ausbrechen.
»Ach Gott«, sagte Sabine, »was mach ich denn jetzt?«
Hollinger war sich nicht sicher, ob er seine Hilfe anbieten sollte, denn er wusste genau, worum es ging. Frau Krämers ungleich rote Wangen sprachen Bände. »Wo ist dein Mann jetzt?«, fragte er. »Auf dem Jubiläumsfest«, sagte sie, »da war ich bis eben auch, aber ...« Sie sprach nicht weiter. Jeder wusste, dass Michael Krämer seine Frau schlug, auch, wenn er das nie vor Zeugen tat. Es gab Stimmen, die behaupteten, er würde seine Frau ohrfeigen, weil er das bei seinen Schülern nicht durfte. Wie oft hatte Sabine Krämer sich bei Ursula schon ausgeheult? Und wie oft hatte Ursula ihr gesagt, sie solle den Kerl in die Wüste schicken. Hollinger kannte dieses Phänomen, dass Frauen oft nicht die Kraft aufbrachten, sich von ihren gewalttätigen Ehemännern zu trennen. Es war ihm in seiner Laufbahn als Polizist immer wieder begegnet, verstehen konnte er es nicht. Früher, als Frauen noch finanziell abhängig waren von ihren Männern und so gut wie keine Rechte besaßen, da blieb ihnen vielleicht keine Wahl, aber heute war das doch anders. Und trotzdem ließen sie sich immer wieder einschüchtern. »Warte, ich hab eine Idee«, sagte er, »wie wär's, wenn du meine Mutter nach Hause bringst? Dann kannst du bei ihr bleiben, wenn du willst.«
Sabine Krämers Gesicht hellte sich auf. »Ja, das würde ich gerne, wenn das geht«, seufzte sie erleichtert.
»Na, dann komm«, sagte Hollinger und ging voran ins Gästezimmer, wo seine Mutter vernehmlich schnarchte.
»Oh«, entfuhr es Sabine, als sie die alte Dame in ihrem eleganten grünkarierten Hosenanzug auf dem Bett liegen sah.
»Berna!«, rief Hollinger und patschte seiner Mutter liebevoll auf die Wange. »Komm, du musst aufstehen, Frau Krämer bringt dich nach Hause und bleibt heute Nacht bei dir.«
Bernadette Hollinger blinzelte Sabine aus schweren Lidern an und lächelte dann. »Das ist gut«, murmelte sie, »es geht doch nichts über das eigene Bett.«
»Wem sagen Sie das«, seufzte Sabine und half Frau Hollinger auf die Beine.
Fünf Minuten später schloss Kaspar aufatmend die Haustür und ging zurück zur Terrasse, wo Hubert Frings mittlerweile im Lehnstuhl eingeschlafen war und die beiden Würstchen nicht mehr als solche zu erkennen waren.
Er lächelte selbstzufrieden. Ausnahmsweise hatte es das Leben mal gut mit ihm gemeint und ihm so eine wertvolle Information zugespielt. Aber wieso das Leben? Er hatte eben ein gutes Gedächtnis. Am Anfang war er nicht sicher gewesen – nach so langer Zeit, aber dann hatte er nachgeforscht und konnte nach und nach das Puzzle zusammensetzen. Gründlichkeit zahlte sich eben aus, und die Fähigkeit zur Deduktion natürlich. Er wandte lächelnd den Kopf der Frau zu, die neben ihm lag. Es schien ihr gefallen zu haben. Sabine war im Bett einfach eine Niete. Keine Ideen, keine Lust, mal was Neues auszuprobieren. Und seine Geliebte fing ebenfalls an, ihn rumzukommandieren. Wollte, dass er sich scheiden ließ. Liebe Güte, was glaubte sie denn, was eine Scheidung kostete? Und wenn er mal geschieden wäre, würde er bestimmt nicht so blöd sein und gleich wieder heiraten. Nein, da würde er sich doch lieber an seine neue Gespielin halten. Die war so demütig, wie er das liebte, ließ sich alles gefallen, auch das Fesseln war kein Problem. Nur bei der brennenden Zigarette hatte sie verrückt gespielt. Er lachte leise und sah auf die Uhr. Noch nicht mal zehn. Er hatte Lust, was zu trinken. Er würde sie wecken und sie sich noch mal vornehmen. Dann würde er gehen und sich diese Loser beim Jubiläumsfest ansehen. Wenn die wüssten. Er konnte die Bombe platzen lassen, wann immer er wollte. Aber er wollte sich vorher noch ein bisschen amüsieren und austoben. Und wenn er damit fertig war, würde man weitersehen. Auf jeden Fall war sein Beweis bis dahin sicher untergebracht. Es war schon erstaunlich, was so ein kleines Geschenk manchmal für Folgen haben konnte.
Es war nicht mal fünf Uhr am Sonntagmorgen, als das Telefon klingelte. Hollinger tastete schlaftrunken auf seinem Nachttisch herum, um dieses schmerzhafte Geräusch abzustellen.
»Hallo«, nuschelte er heiser.
»Hollinger?«, kam es undeutlich vom anderen Ende, »da liegt einer im Annateich mit’m Kopf im Wasser. Kümmern Se sich mal drum!«
Der Anrufer drückte das Gespräch weg, bevor Hollinger Traum von Wirklichkeit unterscheiden konnte.
»Wie bitte?«, fragte er und richtete sich auf. Er war sich nicht sicher, ob er den Mann am anderen Ende richtig verstanden hatte. Und war das überhaupt ein Mann gewesen? Wahrscheinlich ja, er schien nicht ganz nüchtern gewesen zu sein. Auf dem Display stand »Unbekannt«, das half ihm also auch nicht weiter. Er legte den Hörer weg und kuschelte sich wieder in die Kissen. Da wollte sich irgendein Betrunkener auf seine Kosten amüsieren. Sollte gefälligst im Revier anrufen. Er schloss die Augen und versuchte wieder einzuschlafen. Nach einer Weile warf er die Decke weg und schwang die Beine aus dem Bett. Was, wenn das kein Scherz war? Wenn da tatsächlich einer im Wasser lag? Vielleicht war er ja betrunken und kam nicht wieder raus? Dieser verflixte Sportverein mit seiner ewigen Feierei verwandelte alle Kerle in Kleinkinder, die sich nicht benehmen konnten!
Er griff zum Hörer und rief beim Kleefelder Revier an. Polizeikommissar Wenck meldete sich. »Hallo, hier Hollinger, ich hatte eben einen merkwürdigen Anruf. Scheint jemand im Annateich ein nächtliches Schwimmen zu veranstalten. Könntet ihr mal nachsehen?«
»Wer hat angerufen?«
»Leider keine Ahnung. War wohl ein Mann und nicht ganz nüchtern.«
»Alles klar, ist seit gestern nicht der Erste, den wir aus dem Zelt geschleift haben.« Hollinger legte auf und schlief wieder ein. Bis das Telefon zum zweiten Mal an diesem Morgen klingelte.